Abraham
Martin Stöhr
Die Forschung zur biblischen Geschichte Abrahams neigt heute überwiegend dazu, sie nicht als eine literarische Legende anzusehen, sondern in ihrem Kern, der Gestalt Abrahams, einen konkreten Menschen mit seinem Clan aus den Uranfängen der Geschichte Israels zu erkennen (vielleicht zwischen 2000 und 1400 vChr). Mündliche und schriftliche Überlieferungen reichern sein Bild „sagenhaft“ an und machen – wie auch zB Rembrandts oder Chagalls Bilder sowie zahlreiche Vertonungen bis zu Strawinsky – deutlich, dass die „Wahrheit“ der Abrahamsgeschichte sich vielgestaltig ausdrückt.
Abrahams Geschichte findet sich im 1.Mosebuch (11,27-25,10).. Sein ursprünglicher, semitischer Name Abram bedeutet „’Vater’-Gott ist erhaben“, bis er – ebenso volkstümlich erklärt – den Namen Abraham „Vater der Völker“ (1.Mose 17,5) erhält
Abram/Abraham wird zum ersten Mal erwähnt am Ende des von Noah bis zu ihm und Sara geführten Stammbaums (1.Mose 11,27-32), der zugleich der Anfang der ganzen Erzelterngeschichte ist. Sie erzählt von Abraham, Isaak und Jakob sowie ihren Frauen. In ihnen verkörpert sich eine „gelebte Verheissung“ (M. Buber). Ihr dreifacher Inhalt: die Berufung Israels als Gottes Volk, sein Bestand gegen alle Gefährdungen von innen und aussen sowie ein Segen, der an Israel gegeben ist, aber durch dieses Volk an alle Völker geht (1.Mose 12,1-3).
Während Israels staatenloser Zeit, als es nach Babylon (586-536 v.Chr.) verschleppt war, werden die Erzeltern, vor allem Abraham, immer wichtiger. Sie sind Offenbarungsempfänger des einen Gottes gegen viele real existierende Götter, sie stiften dem „Gott der Väter“ Orte der Anbetung, sind Träger einer Verheissung, die nicht widerrufen wird. Die Geschichte eines nomadischen Stammes beginnt mit Abraham. Sie wird in den Kategorien einer Familiensaga erzählt, auch wenn sie von den vertraglich-freundschaftlichen oder konflikt-besetzten Beziehungen zu anderen Nomadenstämmen berichtet. Der Stammvater wandert von Ur in Chaldäa (Mesopotamien) nach Kanaan ein; ihm und seinem grösser werdenden Volk kommt wie allen Völkern der Erde ein Stück von Gottes Erde zu.
Mit Abraham setzt Gott nach der Erschaffung der Weltwirklichkeit neu an. Leben und Geschichte des Universums ist nach der Schöpfungsgeschichte der menschlichen Verantwortung übergeben – trotz der menschlichen Fähigkeiten, sich verantwortungslos zu verhalten (Adam und Eva), den Mitmenschen zu hassen und umzubringen (Kain und Abel), die eigene Hybris auf die Spitze zu treiben (Turm zu Babel) sowie die ganzer Schöpfung zu gefährden (Sintflut). Dagegen verbündet sich Gott mit den Menschen in einem Bund („Testament“), den er mit Noah, dem Exponenten der einen Menschheit, sowie mit Abraham, dem Vater Israels und der Völker, schliesst. Er setzt verlässliche Regeln zum Leben, Zusammenleben und Überleben der Menschen, die in den stets neu zu konkretisierenden Zehn Geboten (2.Mose 20) und im Doppelgebot der Liebe (5.Mose 4f und 3.Mose 19,18) gipfeln. Von ihnen wird später im Talmud erzählt, dass Abraham bei ihrer Übergabe am Sinai dabei war.
Aber nicht nur Regeln, christlicherseits allzu oft als starres „Gesetz“ karikiert, gehören zur Menschenfreundlichkeit Gottes. Jeder Mensch hat als sein Ebenbild eine unverlierbare, wenn auch verletzliche Würde. Jeder Mensch ist ein Risiko zum Guten und zum Bösen. Die „Weisung“ (= „Gesetz“ = Tora) zum guten, richtigen Leben wird in den stories zu Abraham und den folgenden Israelgeschichten innovativ entfaltet.
Gott ruft Abraham aus „Vaterland, Verwandtschaft und Vaterhaus“ in ein „Land, das ich dir zeigen will“, in eine Existenz des Gottvertrauens (S. Kierkegaard: “Er gelangte in 120 Jahren nicht weiter als bis zum Glauben“). Dieser Aufbruch in eine neue Zukunft bedeutet zugleich die befreiende Absage an alle anderen Gottheiten- Das malt das aus Qumran stammende Jubiläenbuch und später ein Midrasch (GenR 38) so aus, dass Abraham in Abwesenheit seines polytheistischen Vaters alle von diesem produzierten Götterstatuen zerschlägt. Der Koran (Sure 21, 54ff) nimmt diese Geschichte als Urgeschichte des Monotheismus auf.
Wenn Abraham für Juden, Christen und Muslime ein Vorbild des glaubenden Vertrauens auf Gott ist, dann verdankt sich dieser hohe Rang der gelebten Nachfolge Gottes Ruf gegenüber. Dieser trifft einen Nichtisraeliten, einen „Fremden“ (Babylon. Talmud: Sukka 49,b: „der erste Proselyt“) und macht ihn zum Stammvater des Volkes Israel und zugleich zum Vater der Völker. Er wandert als „Fremdling“ aus seinem Haus der Entfremdung durch alle möglichen Autoritäten aus und als „Fremdling in das Land der Verheissung“ (S. Kierkegaard) ein. In der partikularen Erwählung des einen lebt Gottes universaler Willen zum Besten aller seiner Geschöpfe. Abraham erfährt Gottes Segen. Nach D. Bonhoeffer ist Segen „die Inanspruchnahme des irdischen Lebens durch Gott“. Er zeigt sich beispielsweise nicht nur in Nachkommen, im Land – wie für alle Völker so auch für Israel – als der entscheidenden Lebensgrundlage oder im Schutz des Lebens.
Zur Folge dieses umfassenden Segensverständnisses gehört auch, dass in Abraham „gesegnet werden alle Geschlechter der Erde“. Wie für Abraham hat der bedingungslos gegebene Segen eine kritische Dimension auch für die Völker. Sie sind davor gewarnt, ihn zu verspielen. Der Segen für alle Völker ist damit verbunden, dass sie Israel nicht verfluchen, dh ihm als Empfänger und Träger göttlicher Offenbarung nichts Böses antun. Das bedeutet keine Heiligsprechung Abrahams und seiner Nachkommen bis auf den heutigen Tag, sondern die Tatsache, dass in ihm die Geschichte des „Einen Heiligen“ bis in die Gegenwart überliefert wird. In den mittelalterlichen Judenpogromen wird die Geschichte von Isaaks Opferung auch einmal so gelesen, dass Isaak nicht überlebt: Wer soll dann Gott hören und loben? wird erschrocken gefragt. Die Kette der Tradition zu zerstören bedeutet, die Verbindung zum Gott „Abrahams, Isaaks und Jakobs und dem Vater Jesu Christi“ (Blaise Pascal) zu kappen.
Kritisch wird berichtet, wie Abraham, als Wirtschaftsflüchtling, vor einer Hungersnot nach Ägypten geflohen, Pharao belügt. Er gibt seine Frau als seine Schwester aus. Pharao – der Fremde! – entlarvt und beschämt ihn; er bietet ihm Schutz und Geschenke. Positiv wird berichtet, dass Abraham gastfrei ist, dass er die Weidegründe friedlich mit anderen teilt, dass er sich für die völlig verkommenen Städte Sodom und Gomorrha einsetzt. Er verhandelt ebenso zäh wie hart mit Gott, weil es dort eine für jedes Gemeinwesen wichtige Minderheit gibt, die sich um Gerechtigkeit bemüht, also um des Ganzen willen am Leben bleiben muss. Er wird wie Hiob hart geprüft. Seinen Sohn, die Zukunft seines Volkes, soll er opfern. Gott nimmt ihm aber das Schlachtmesser aus der Hand und verweist auf Tieropfer, die bis zur Zerstörung des Tempels 70 nChr stattfinden. Die Botschaft dieser Geschichte heisst: Menschen dürfen für keine Sache der Welt geopfert werden. Das ist ein Protest gegen die im Umfeld üblichen Kinderopfer, zB an Moloch, sowie die Begründung eines alternativen Gottesdienstes, der den Menschen dient, statt sie zu opfern. Der hier genannte Berg Moria verweist auf Jerusalem und sein späteres Zentralheiligtum, von dem aus auch Mohammed zum Himmel fährt.
Isaak, lang ersehnter Sohn alter Eltern, setzt die Generationenfolge und damit die Segensgeschichte fort. Aber vor dieser Geschichte beginnt mit dem erstgeborenen Sohn Abrahams, mit Ismael, den ihm seine Magd Hagar gebiert, eine andere Segens- und Konfliktgeschichte. Er wird in den Heiligen Schriften der Juden und damit auch der Christen zum Stammvater der Araber, später der Muslime. Sie haben einen theologisch legitimierten Platz in der „Heilsgeschichte“ Gottes. Auch Ismael wird Segen in der Gestalt von Nachkommen, Land und Schutz gegeben (1.Mose 16,10; 17,20). Auch er wird – wie die 12 Stämme Israels – „12 Fürsten“ haben. Ismael und Isaak werden am selben Tag beschnitten; sie bekommen leibhaftig das gleiche Bundeszeichen als Erinnerungszeichen. In der Geschichte von Abraham, Sara, Hagar, Ismael und Isaak werden Konflikte aufgrund der Gemeinsamkeit wie der Unterschiede schonungslos angesprochen. Aber beide Söhne begraben Abraham und Sara im Familiengrab in Hebron. Bis heute befinden sich dort, Gotteshaus und Streitobjekt zugleich, Synagoge und Moschee unter einem Dach.
Im Neuen Testament wird Abraham nach Mose und vor David am häufigsten genannt (73 mal). Er ist – wie im Judentum – „unser Vater Abraham“(Joh.-Ev.853; Ap.Gesch.7,2; Röm 4,1). Er ist und bleibt auch für die Christenheit der „Vater aller Gläubigen“ (Röm.4,11).
Abraham ist in Gottes messianischem Reich der Inbegriff der rettenden Geborgenheit, die den Armen Lazarus in „Abrahams Schoss“ (Luk.16,23) nimmt und den herzlosen Reichen, der sich nur selber kennt, seinem Egoismus überlässt. Augustinus geht soweit, die Kirche schon mit Abraham beginnen zu lassen. Mit seinem Glauben, nicht mit seiner Abstammung, ist er als wahrhaftiger „Freund Gottes“ (Jes. 41,8; Jak. 2,23) ein Vorbild für alle Glaubenden, die es auch ausserhalb der Grenzen Israels oder der Kirche gibt. Das betonen Paulus und Jakobus, wobei der eine Wert auf das glaubende Vertrauen legt und der andere auf die in dieser Haltung entstehende gute Praxis. Beide beziehen sich darauf, wie Abrahams festes Vertrauen auf Gottes Zusagen gegen den Augenschein, zB der Heimat- und Kinderlosigkeit, gerechtfertigt wird.
Eine Auseinandersetzung Jesu mit einer jüdischen Gruppe (Joh 8,30-47) muss noch erwähnt werden, weil sie eine Ursache zur christlichen Dämonisierung der Juden lieferte. Jesus streitet mit dieser Gruppe darüber, ob es ausreicht, sich auf die leibliche Nachkommenschaft Abrahams zu berufen. In prophetischer Schärfe verneint das Jesus. Das Vorbild Abrahams verlangt mehr als sich auf diese äusserliche Absicherung zu verlassen. Wie er Petrus „Satan“ nennt (Matth 16,23) wirft Jesus diesen Selbstsicheren „Teufelskindschaft“ vor. Die Polemik Jesu schadete der Karriere des Petrus nicht, wohl aber den Juden in einer zu Macht und Mehrheit gekommenen Christenheit. Sich auf Abraham zu berufen heisst nach dieser Geschichte und der Geschichte der Shoa, Gott und seinem Christus nachzufolgen und sich nicht auf eine Kirchenzugehörigkeit zu berufen.
Gegenüber Judentum und Christentum vertritt der Islam die Auffassung, die von beiden verfälschte ursprüngliche Religion Abrahams wieder herzustellen (Sure 2,75 u.85). Ibrahim/Abraham, der erste Moslem, ist der „Freund Gottes“ (Sure 4,125); er stellt als sein Prophet den reinen Gottesdienst wieder her. Die Abraham-kritischen, dh die menschlichen Aspekte (zB seine Lüge gegenüber Pharao) werden im Koran verschwiegen. Im Gegensatz zu den Israel-kritischen Propheten (zB Jesaja, Jeremia, Amos, Hosea), die im Koran fehlen (müssten sie sonst ebenso Umma-kritisch wie sie zu Recht Kirchen-kritisch gelesen werden müsse?) wird Ibrahim seiner fehlerhaften Menschlichkeit entkleidet. Mit Ismael hat er die Kaaba in Mekka von allem Götzendienst der vorislamischen Zeit gereinigt. Beide initiieren Mekka als den Wallfahrtsort des wahren Monotheismus. Ibrahims Platz am Ende der Tage ist zur Linken Gottes/Allahs. Er ist es, der die Gläubigen ins Paradies führt.
Wer aus dem gemeinsamen Bezug auf Abraham auf eine Unterschiedslosigkeit der drei „abrahamischen“ Religionen schliesst, übersieht, dass der Eine Gott, zu dem alle drei auf verschiedene Weise beten, sich unterschiedlich in der Welt profiliert: durch Mose, den Führer aus Sklaverei, den „Gesetz“geber und Propheten, durch Jesus, dessen Leben, Botschaft und Geist die messianische Zeit eröffnet, durch Mohammed, den Propheten und Leiter auf dem Weg der Gerechtigkeit und Barmherzigkeit. Zudem ist das Verhältnis zu den Heiligen Schriften verschieden. Das Christentum hat die gesamte Hebräische Bibel als den grössten und gleichberechtigten Teil seiner Bibel übernommen. Der Islam wählt aus beiden Testamenten nur jene Personen und Geschichten, die auf Mohammed hinweisen. Abraham lädt ein, Wege der Nachfolge zu suchen und zu gehen – zum Besten der Welt. Für sie sind Abrahams Kinder da, nicht für sich selbst.
Literaturhinweis: Karl-Josef Kuschel, Streit um Abraham, München-Zürich 1994; Rudolf Weth (Hg), Bekenntnis zu dem einen Gott. Christen und Muslime zwischen Mission und Dialog, Neukirchen 2000; Martin Stöhr, Abrahamische Ökumene – Leitbild für Theologie und Religionsunterricht? Saarbrücker Religionspädagogische Hefte 2. Saarbrücken 2006;