Die Sorge der Gemeinde um ihre Kranken und Alten Theologische und diakonische Reflektionen einer Pastoraltätigkeit
I. Der ideale Kranke
Der Kranke wartete nur noch auf seinen Tod. Aber nicht nur er, sondern auch seine Frau, seine Kinder, die Angehörigen – alle die ihn in dem Zustand erlebten; denn er hatte Krebs im fortgeschrittenen Stadium. Die Schmerzen quälten ihn ununterbrochen. Was könnte man ihm da Besseres wünschen? Als ich die Krankenschwester fragte, in welchem Zimmer er sei, gab sie zur Antwort: „Da vorne“ – wo an der Tür steht: „Besuch streng verboten“. Doch ich trete trotzdem ein. Gott sei Dank! Der Patient war nicht allein, seine Frau und eine gute Bekannte der Familie auf der einen Seite, seine Tochter auf der anderen. Beide Hände des Patienten waren in den Händen dieser Menschen, als ob er sie oder sie ihn nicht loslassen wollten. Ab und zu war er sehr unruhig und doch versuchte er, seine quälenden Schmerzen auszuhalten. Gleichzeitig sprach er: „Herr, ich bin nicht würdig … … … dass du eingehst … … unter mein Dach … … Aber sprich nur ein Wort …. … so wird meine Seele gesund … … … .“
In der einen Stunde, die ich dort war, hörte ich diese Worte mehrmals; und seine Frau versuchte ihn immer wieder zu trösten: „Doch, du bist würdig. Du hast alles lange und gut vorbereitet.“ Nach einer Weile, als er wieder von Schmerzen gequält wurde, gab er seiner Frau ein Zeichen, ihn zu umarmen: „Lass mich nie allein …!“ … „Verlass mich bitte nicht!“ Und sie versprach ihm: „F., wir haben im Leben vieles durchgestanden. Ich verlasse dich nie. … Ich bin immer bei dir. Ich gehe nie weg von dir!“
Im Gespräch mit den Anwesenden sagte sie, dass er an diesem Tag von jedem einzelnen seiner Kinder, Enkelkinder und Angehörigen ganz bewusst Abschied genommen hatte. Bevor ich mich verabschieden wollte, hatte ich das Gefühl, dass ich noch mit ihm beten sollte. Zuerst haben wir miteinander das „Vater unser“ gebetet – später habe ich ihm das Gebet von Charles de Foucauld (GL 5,5) vorgebetet und er sprach mir Satz für Satz nach:
„Mein Vater, ich überlasse mich Dir, mach mit mir, was Dir gefällt. Was Du auch mit mir tun magst, ich danke Dir. Zu allem bin ich bereit, alles nehme ich an. Wenn nur Dein Wille sich an mir und an all Deinen Geschöpfen erfüllt, so ersehne ich weiter nichts, mein Gott. In Deine Hände lege ich meine Seele; ich gebe sie Dir, mein Gott, mit der ganzen Liebe meines Herzens, weil ich Dich liebe, und weil diese Liebe mich treibt, mich Dir hinzugeben, mich in Deine Hände zu legen, ohne Maß, mit einem grenzenlosen Vertrauen; denn Du bist mein Vater“. Als das Gebet zu Ende war, gab er seiner Dankbarkeit durch das Erheben seiner rechten Hand Ausdruck. Er sprach noch leise: „Ich danke Ihnen, … sehr herzlich!“ … „Ich werde an Sie … … denken!“
Fast eine Idylle in der Krankenseelsorge, die wir uns heutzutage kaum vorstellen können. Der Kranke hatte das Gebet nicht ausgesprochen, weil der Priester da war, sondern weil er glaubte, dass Beten das einzige Mittel sei, seine quälenden Schmerzen zu ertragen. Hinter dieser tiefen Religiosität steckt ein ganzes Leben, das ihm in seiner Verzweiflung den Halt, und nun die Bereitschaft, sein Leben in Gottes Hände zurückzulegen, gab. Wenn alle unsere Kranken so reagieren würden, wäre dieser Bereich einer der interessantesten und attraktivsten in unserer Pastoral. Leider geht der Seelsorger[1] oftmals nicht mit großer Begeisterung zu den Kranken.
II. Das Krankenhaus und das Altenheim: Station zwischen „können“ und „nicht können“, zwischen „dürfen“ und „nicht dürfen“
Schon an der Tür riecht man es. Da ist eine andere Luft. Und der Seelsorger weiß Bescheid: hier sind Menschen, die nicht alles können, die dies und jenes nicht dürfen. Wie oft bekommt er Sätze wie: „Wenn ich nur endlich heim dürfte …! … diese Langeweile hier …. das Essen ist eklig … das ständige Herumkommandieren der Schwestern … …“ zu hören. Hinter all diesen Aussagen steckt sowohl der Wunsch nach Angenommensein und Verstandenwerden als auch der Wunsch, sich aus diesem Gefängnis zu befreien und zum alltäglichen Leben zurückzukehren; in Freiheit zu leben – ohne Anweisungen. Wenn der Patient dann mitbekommt, wie das Personal, das eigentlich die Kranken pflegen und zur Heilung beitragen soll, über ihn redet: „die Leber in … 57“, „der Magenkrebs in …68“, oder „die Galle“, „der Blinddarm“ … , wächst der Wunsch nach Befreiung in ihm nur noch mehr.
Die alte Frau, die nun aus ihrem eigenen Haus ins Alten- und Pflegeheim eingeliefert wurde, empfindet die Lage nicht anders. In diesem Heim für Alte fehlt fast alles, was sie bisher in ihrem Leben gehabt und erlebt hatte. Die kahlen Wände ohne die ihr bekannten und von ihr geliebten Bilder, ohne die Möbel, mit denen sie alt geworden ist, ohne diese und jene Ecke, die immer ihre „Lieblingsecke“ war, … . Man bekommt ein Bett, einen Tisch, einen Stuhl; um die Langweile zu töten auch ein Radio und ein Fernsehgerät. Und weil „der Fall schwierig ist“ und sie nicht einfach in den Speisesaal kommen kann, bekommt sie ihr Essen auf einem Tablett ins Zimmer gebracht. Da ist keine Hand mehr, die reicht und gibt, streichelt und hält, kein „Du“, kein Vorname …! Das Personal verschenkt im besten Fall noch zwei Worte: „Guten Appetit!“ – dann kann sie anfangen!
Meist sieht man im Krankenhaus oder Alten- oder Pflegeheim das Personal hin und herhetzen, ganz nach dem Motto: „Wir haben viel zu tun!“ Eine junge Sozialpädagogikstudentin berichtete über ihre Erfahrungen als Putzhilfe in einem Ordensaltenheim: „Putzen ist hier wichtiger, als Kontakte zu knüpfen oder mit den Menschen zu sprechen. Meistens putze ich sogar Sachen, die sowieso schon sauber sind. Eine alte Frau sagte mir: ‚Wenn Sie morgen kommen, habe ich selber schon alles geputzt; vielleicht haben Sie dann fünf Minuten Zeit. Ich möchte Ihnen so gerne mein Familienalbum zeigen … !’“
Meistens steht auch schon an der Eingangstür geschrieben, wann – und vor allem wann keine Besuchszeiten sind. Unsere Zentren für Kranke, Alte- und Pflegebedürftige werden mehr und mehr zu menschlichen „Verödungszentren“, in denen beziehungslose Apparate absolut dominieren und das Menschliche zu kurz kommt. Ganz treffend schreibt Kristiane Albert-Wybranietz (Körner Verlag): „Manche sterben durch Unfall. Manche sterben durch Krankheit. Manche sterben durch Gewalt. Manche sterben an Altersschwäche. Manche sterben durch ihre eigene Hand. Viele sterben jedoch an Lieblosigkeit. Das ist der schlimmste Tod, weil man danach noch weiterlebt“. Und dieses „Leben“ danach ist meist das Arbeitsfeld, in dem sich der Seelsorger bewegt.
III. Der moderne Kranke
Der ideale Kranke, welcher am Anfang beschrieben wurde, gehört noch zur „alten Generation“. Der moderne Kranke verhält sich hingegen völlig anders zu seiner Krankheit. Nicht wenige Male bekommt man – besonders beim Krankenbesuch bei jüngeren Kranken – zu hören: „Ich bin doch nicht krank! Wozu brauche ich einen Seelsorger?“ Hinter dieser Aussage steckt eine völlig andere Einstellung gegenüber dem Kranksein als in früheren Zeiten. Schon bei der Besprechung sagt der Arzt zum Patienten: „Am Montag Früh kommen Sie dran. Sie bekommen eine lokale Anästhesie … die OP wird knapp 2 Stunden dauern … . Sie können alles auf dem Bildschirm verfolgen, wie im Fernsehen … Sie wissen dann Bescheid … nach 3 Tagen können Sie wieder nach Hause und nach einer Woche sind Sie ganz fit!“ Es geht um die schnelle „Reparatur“ eines Organs, eines Kranken. In der Medizin von heute wird der Patient überwiegend unter dem Blickwinkel der Lehrbücher betrachtet. Kranksein versteht sich hier als eine „Abweichung von bestimmten Normwerten“. Darum gilt es, die Krankheit abzuschaffen, den defekten Teil des Körpers zu reparieren oder zu ersetzen. Früher wusste man, dass Gesundheit ein Geschenk Gottes ist; heute glaubt man, sie sei käuflich. Man versuchte auch, die Schmerzen anzunehmen, glaubend, dass das Leid zum Leben gehört. Heute hingegen wissen wir, wie man das physische Leid lindern oder sogar abschaffen kann. Wir versuchen um jeden Preis den Schmerz zu vermeiden oder wenigstens zu verdrängen. Kaum bekommen wir Kopfweh, schon suchen wir die Schmerztabletten in der Hosentasche. Wir lernen, Schmerzen zu bremsen. Mit Recht stellt sich der Synodalbeschluss „Unsere Hoffnung“ die Frage: „Gerät unsere Gesellschaft nicht immer mehr unter den Bann einer allgemeinen Verständnislosigkeit, einer wachsenden Unempfindlichkeit gegenüber dem Leiden?“
Diese Wandlung ist deutlich in Zeiten einer Krankheit zu sehen. Der Kranke stellt hohe Ansprüche an seine Behandlung. Kranken- und Zusatzversicherungen, die im Fall der Fälle mit Millionenbeträgen aufwarten, sind der beste Beweis dafür. Wie aber wird der Patient denn dem Pflegepersonal gegenüber Dankbarkeit empfinden können, wenn er alles als eine „bezahlte Dienstleistung“ ansieht? Wie kann dabei eine Patient-Pflegepersonal-Beziehung zustande kommen?
Auch der Seelsorger ist in der veränderten Situation oft überfordert. Darüber hinaus sieht er ein Gemeindemitglied oft zum ersten Mal im Krankenhaus. Schon bei seinem Krankenbesuch in der nächsten Woche heißt es dann, der Patient sei bereits wieder „entlassen“ worden. Außerdem wird die Zahl der Patienten in den Kliniken und Altenheimen immer größer, weil viele kleine Einrichtungen durch wenige Große ersetzt werden. Im Gegensatz zu überschaubaren Heimen baut man heute „Zentren“ für Alte und Kranke. Des weiteren ist der ganze Seelsorgebereich durch die distanzierte Haltung der Menschen zu Religion und Kirche erschwert worden. Dadurch erfahren die Seelsorger nicht selten Zurückhaltung oder sogar Ablehnung. Man braucht eine andere Lösung als die klassische. Der Seelsorger einer Gemeinde oder Seelsorgeeinheit steht vor einer riesigen Anzahl von Menschen, die seinen Trost, sein Dasein, sein Verständnis und sein Mitleid brauchen: Einsame, Kranke, Deprimierte, Alte, … .
Aber der Seelsorger muss sich einer weiteren Herausforderung stellen: Es muss immer etwas in der Gemeinde los sein. Oft hört man über einen Pfarrer und seine Pfarrei: „Da, in dieser Gemeinde ist viel los“ … oder: „Da läuft nichts!“. Deswegen setzt der Pfarrer seine ganze Kraft, seine Zeit, seine Ideen dafür ein, um in der Gemeinde etwas umzusetzen, Schlagzeilen zu machen. Wer hat dann die Zeit und Ruhe, um Kranke und Alte zu besuchen und sich um sie zu kümmern? „Sie können ja sowieso nichts mehr tun!“ Rein wirtschaftliche Gedanken, die der Identität eines Seelsorgers widersprechen sollten!
Auch die Menschen haben sich mit der Art eines Seelsorgers, der Pfarrer ist, längst abgefunden: Der „Ottonormalverbraucher“ in einer Gemeinde sagt: „die Pfarrei braucht einen Pfarrer, um die Messe zu lesen, zu taufen, …, …, die Toten zu begraben.“ Nicht wenige Seelsorger sind dabei tief enttäuscht, denn sie werden nur gebraucht, damit die Gemeinde „versorgt“ wird. Heutzutage erwartet man vom Pfarrer eher, dass er sich um organisatorische und verwalterische Tätigkeiten, als um die Seelen der Menschen kümmert.
IV. Vom „Pfarrer“ zum „Seelsorger“
Eine christliche Gemeinde ist keine Kopie der weltlichen Gemeinde. Sie hat eine andere Identität. So kann sie sich ein Paradigma einer echten christlichen Gemeinschaft aus der Apostelgeschichte zum Vorbild nehmen (vgl. Apg 2, 44-47). Sicherlich waren nicht alle Mitglieder der Urgemeinde top-fit in Sachen Gesundheit oder Alter. Auch unter ihnen gab es Alte, Kranke, weniger Fähige, und einfache Menschen: „Die Leute strömten zusammen und brachten Kranke und von unreinen Geistern Geplagte mit“ zu den Aposteln (Apg 5, 16). Denn die Menschen haben gewusst, dass die Apostel immer noch die zündende Kraft des Leidens Jesu in sich hatten. Seine Haltung gegenüber den Kranken war eindeutig. Er ist ihnen nie ausgewichen, sondern auf sie zugegangen, um bei ihnen zu sein, sie zu heilen. Noch mehr: Er stellte den Kranken in den Mittelpunkt, wie bei dem Gelähmten (vgl. Mk 3, 3). Er stellte diesen gelähmten Mann dorthin, wo sonst die Torarolle ausgerollt wird, wo das Heiligste seinen Platz hat! Er sagte nur: „Er braucht unsere Aufmerksamkeit, Zuwendung und Heilung.“ Durch das Verhalten Jesu zu den Kranken ist die Sorge um unsere Kranken auch etwas Göttliches. Der Maßstab beim letzten Gericht hängt auch von unserem Umgang mit den Kranken ab: „… ich war krank, und ihr habt mich besucht …“ (Mt 25, 36). Der Seelsorger wird den Kranken bei der Krankenpastorale nie gerecht, wenn er mit Abstand und Schutz wegen der vielen Verpflichtungen, nur „kurz“ und „schnell“ bei ihnen „reinschaut“. Die Krankheit eines Menschen kann nämlich auch ein Symptom für innere „Unordnung“ sein. Deswegen geht es nicht nur um „irgendein Organ“, sondern um den ganzen Menschen und seine Heilung. Der Patient hat nicht nur eine Krankheit, – er ist krank! Deshalb muss die Heilung auch von innen heraus kommen. Sie ist das Ziel eines jeden Seelsorgers. Ich erinnere mich an einen Fall sehr gut: Bei wöchentlichen Besuchen im Krankenhaus stand ich an einem Krankenbett. Als der Arzt zur Visite kam, ging ich hinaus. Dabei sagte der Arzt: „Bitte laufen Sie nicht weg. Kommen Sie doch bitte wieder herein, wenn ich fertig bin. Herr W. …. braucht Sie dann mehr als mich.“ Es geht nicht nur darum, Fragen wie „Was gibt’s Neues?“ oder „Wie geht’s?“ zu stellen, man braucht ein klein wenig Zeit und Ruhe und vor allem Mitleid und Sensibilität, um zu verstehen, was der Kranke wirklich braucht.
Ein Theologiestudent wurde zum Praktikum in eine Klinik geschickt. Bei der ersten Begegnung mit einem unheilbar Kranken stellte er sich vor. Beim zweiten Besuch fing der Student an, dem Kranken einige religiöse Angebote vorzustellen: „Hier gibt es eine Kapelle mit regelmäßigen Gottesdiensten … und wenn Sie wollen, kann ich Sie rechtzeitig abholen. Oder, wenn Sie beichten wollen, schicke ich Ihnen einen Pfarrer. … Oder wenn Sie vermuten, dass Sie in Lebensgefahr …. . Plötzlich unterbrach der Patient: „Würden Sie mir einen Gefallen tun? Verlassen Sie bitte mein Zimmer!“. Der Student geriet in Verlegenheit. Nach einer Weile fing der Patient aber unter Tränen an, zu erzählen: „Wissen Sie, … seitdem festgestellt wurde, … dass ich eine unheilbare Krankheit habe, … haben meine Frau und meine Kinder mich verlassen. … Ich habe AIDS! Ich bin nichts mehr wert, nicht für einen einzigen Menschen auf dieser Welt …!“ Was der Seelsorger vor allem im Blick haben sollte, ist die Kranken so anzunehmen, wie sie sind. Es gibt keine fixe Regel im Umgang mit den Kranken. Es geht um ein Miteinander, darum, dass der Kranke weiß: „Ja, der steht zu mir. Ich kann mich in meinem Elend auf den Seelsorger verlassen.“
Unser Ideal-Patient am Anfang war in den Augen der Ärzte, Angehörigen, Bekannten und des Pflegepersonals weder heilbar, noch war sein Leben „lebenswert“. Und das weiß er genau. Seine unendlichen Schmerzen müssen ein Ende nehmen, so dass er endlich „erlöst“ wird! Doch selbst zu diesem Zeitpunkt, in dem der Patient eigentlich alle Hoffnung aufgeben musste, bittet er nur noch um eines: „Bitte lass mich nicht allein!“ Als seine Tochter eine Weile aus dem Zimmer ging and später wieder zurückkam, fragte der Patient ziemlich energisch: „Wo warst du?“ Die Wärme und Nähe seiner Frau und Tochter haben besser gewirkt, als das Beruhigungsmittel, das er ständig durch die Infusion bekam. Das heißt konkret: Menschen bei sich haben, die die Krankheit, die Schmerzen, das Nichts-Können, die Einsamkeit verstehen. Wird ein Pfarrer, der seinen Dienst antreten will, diesen Erwartungen auch gerecht?
Thomas Merton, ein berühmter Trappist, der sehr zurückgezogen lebte, hatte eine große Fähigkeit: Mitleid. Er schaute weder Fernsehen, noch hörte er Radio, las nur selten Zeitungen. Aber er war ganz Ohr für das Leid seiner Mitmenschen. Durch Briefe und Gespräche hat er Menschen aus aller Welt, aus allen Schichten und Gruppen, Trost und Beistand geschenkt. Seine Einsiedelei war oft die „Empfangshalle“ für Männer und Frauen, die Rat bei ihm suchten. Er hörte sie mit seinem Herzen, betete mit ihnen, verbrachte Zeit mit ihnen, ließ sie am Leben teilnehmen, damit sie wieder mit neuer Kraft und Hoffnung in ihren Alltag zurückkehren konnten. Dadurch fanden sie festen Halt. Es geht darum, verstanden zu werden. Eine Voraussetzung dafür ist jedoch die Fähigkeit, als Seelsorger die eigenen Wunden anzunehmen.
Rabbi Joschua ben Levi traf den Propheten Elija, der vor dem Eingang zur Höhle stand. Er fragte Elija: „Wann kommt der Messias?“ Elija antwortete: „Geh und frag ihn selbst“. „Wo finde ich ihn?“, fragte Joschua. „Er sitzt am Stadttor“, antwortet Elija. „Und wie kann ich ihn erkennen?“ fragte Joschua wieder. „Er sitzt unten bei den Armen, über und über mit Wunden bedeckt. Die anderen binden alle ihre Wunden auf einmal frei und verbinden sie dann wieder. Er aber nimmt immer nur einen Verband ab und legt ihn sofort wieder an, denn er sagt sich: ‚Vielleicht braucht man mich. Wenn ja, dann muss ich immer bereit sein und darf keinen Augenblick säumen.’“
Dann ging Rabbi Joschua ben Levi zum Messias und sprach zu ihm: „Der Friede sei mit Dir, mein Meister und Lehrer!“ Der Messias antwortete: „Der Friede sei auch mit dir, Sohn des Levi!“ „Wann kommst du?“, fragte jener. Er antwortete: „Heute!“
Rabbi Joschua kehrte zu Elija zurück, der fragte: „Und, was hat er dir gesagt?“. Eigentlich hat er mich belogen, denn er hat gesagt: „Heute komme ich! Aber er ist nicht gekommen.“ Elija aber antwortete: „Das hat er dir gesagt: Heute, wenn ihr meine Stimme hört!“ (Ps 95, 7-9). Hört der Seelsorger die Stimme des Verwundeten, …, …, …? Dann kann er den Messias im Kranken sehen und erleben!
V. Zum Aufbau eines Mit-Seelsorgeteams in der Kranken- und Altenpastoral
Die Struktur einer Gemeinde verändert sich sehr rasch: immer weniger Priester, immer mehr Alte, Kranke und Pflegebedürftige. Die Alterspyramide der Gemeindemitglieder hat inzwischen längst eine Pilzform angenommen. Die alte Generation breitet sich oben aus und wird von einem dünnen Stamm der jungen Generation gestützt. Zu dieser oberen, breiten Fläche gehört auch die alte alleinstehende Frau, die nun im Alten- und Pflegezentrum ist. Doch auch sie hat das Recht, vom Gemeindeseelsorger besucht und auch betreut zu werden, selbst wenn sie aus der Gemeinde nun verschwunden ist.
Auf der anderen Seite wird immer wieder ernsthaft überlegt: „Wie decken wir diesen Bereich der Alten und Kranken in einer Gemeindeseelsorge noch ab?“ Mit einem Seelsorger ist diese zeitaufwändige Aufgabe kaum zu bewältigen. Seine Zeit und Kraft sind genauso begrenzt, wie die jedes Engagierten in der Öffentlichkeit oder im Beruf. Aber sollten manche Seelsorger nicht einmal ihre Hand aufs Herz legen und sich selbst fragen: „Wie kann ich den Kranken und alten Menschen in meiner Gemeinde gerecht werden?“ Wenn ein Seelsorger an seinen kranken Gemeindemitgliedern interessiert ist und er sich für sie genauso einsetzt, wie für die Kirchenrenovation, die Orgelerweiterung, die Modernisierung des Kindergartens, stimmungsvolle Gottesdienste oder Wallfahrten in ferne Länder, dann kann er auch seine Gemeindemitglieder ermutigen, sich für die Kranken und Alten in seiner Gemeinde zu engagieren. Dann werden auch viele bereit sein, ihn ehrenamtlich zu unterstützen.
Es geht um ein Team von Menschen, die den Heilsdienst als christliche Aufgabe verstehen und diese auch gerne übernehmen. Diese Menschen haben dann nicht in erster Linie eine religiös-ritualisierte Versorgung der schwer Kranken und Sterbenden zu leisten, sondern aus der Perspektive einer ganzheitlichen Respektierung und Akzeptanz jedes Menschen zu handeln und sich von seinen Bedürfnissen und Fragen sowie von seiner Bereitschaft, überhaupt in eine Kommunikation einzutreten, leiten zu lassen,[2] um dann als Vermittler zwischen Gemeinde und Seelsorger zu wirken. Es geht um eine Vernetzung aller Gruppen in einer Gemeinde. Um solchen Herausforderungen gerecht zu werden, braucht man jedoch eine entsprechende Fachausbildung, wie z. B. „klientenzentrierte Gesprächspsychotherapie“ oder „klinische Seelsorgeausbildung“, die die Gemeinde dann auch mit allen Mitteln zu fördern hat. Denn die Gemeinde ist der Ort, wo sich Kranke, Schwache und Alte selbst in ihrem Unwohlsein möglichst wohlfühlen sollten, nicht (nur) in einer Spezial-Einrichtung, die meistens vom normalen Leben abgetrennt ist. Die Gemeinde hat die Verpflichtung, auch in den Kranken- und Alteneinrichtungen anwesend zu sein und auch dort Seelsorge bei den Menschen auszuüben. Denn seelsorglich gesehen befinden sich Einrichtungen für Kranke, Alte und Pflegebedürftige nicht auf exterritorialem, sondern auf seelsorglichem Gelände. Hier geht es um einen Dienst, der zur Heilung führt. Das gehört unausweichlich zur Sendung der Kirche, der Gemeinde.
Unser Ideal-Patient und seine Bitte: „Lass mich nie allein! … Verlass mich bitte nicht!“ darf nicht überhört werden.
Zum Autor: Dr. Paul Chummar C. CMI ist Dozent im Fachbereich theologische Ethik an der Catholic University of Eastern Africa (CUEA), Nairobi, Kenia. Über 22 Jahre war er in Deutschland in der Gemeindeseelsorge sowie Kranken- und Krankenhausseelsorge tätig. Er hat ein Lizentiat im Fachbereich Pastoralpsychologie und sich durch eine vierjährige Ausbildung zum Berater für Ehe-, Familie-, und Lebensfragen und zum klinischen Seelsorger spezialisiert. Mit einer Dissertation über medizinische Anthropologie – medizinische Ethik hat er promoviert. Über 8 Jahre war er an einer Ehe- und Sexualberatungsstelle einer Großstadt als Mitarbeiter tätig und steht heute noch den Studenten und dem Personal der Hochschule sowie den Straßenkindern mit Rat und Tat zur Seite. Des weiteren bildet er Studentinnen und Studenten zu sogenannten „Peer Counsellors“ aus.
[1] Wegen der komplizierten Sprachregeln gelten die Formen des Maskulinums in gleicher Weise auch für das Femininum.
[2] Vgl. A. Heller: „Seelsorge in der Krise der Krankheit – Krankenhausseelsorge, in: I. Baumgartner (Hg.): Handbuch der Pastoralpsychologie, (Regensburg), S. 453.