September 1, 2023
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Kennen, Sehen, Gotteserfahrung

«Ich bin der gute Hirt; ich kenne dieMeinen, und die Meinen kennen mich…» (Joh 10,14). Wie lautet die biblische Bedeutung des Wortes ‚kennen‘? Um das besser verstehen zu können, wollen wir uns die Bedeutung von kennen in hellenistischer, also griechischer Sicht und in hebräischer Sicht anschauen. Das Wort kennen hat in der alt-griechischen und hebräischen Sprache unterschiedliche Bedeutungen.

Zuerst sehen wir uns die hellenistische, die griechische Bedeutung an. In der griechischen Tradition ist das Wort kennenvergleichbar mit dem Wort sehen. Wir sehen etwas, um es zu verstehen. Z. B. einen Stein sehen und verstehen, dass dies ein Stein ist. Hermes ist einer von vielen Göttern in der antiken griechischen Religion. Er ist der Götterbote, der die Botschaft der Götter den Sterblichen überbringt und diese auch übersetzt und interpretiert (Hermeneutik). Hermes wird oftmals als Hirtengottheit oder auch als kriophoros (Widderträger) dargestellt. Eines der Hermes-Gebete lautet: «Ich kenne dich, Hermes, wer und woher bist du….ich kenne dich Hermes und du kennst mich. Ich bin du und du bist ich.“
In der antiken griechischen Religion bedeutet Gott kennen, ihn mit inneren Augen sehen, anschauen. Ist also der griechische Religionsakt mehr Kontemplation über das Sein, oder die Wirklichkeit Gottes?

Die hebräische Bedeutung des Wortes kennen lautet dort nicht wie im Griechischen sehen, sondern erfahren. Wie spiegeln sich die unterschiedlichen Bedeutungen des Wortes kennen im griechischen und hebräischen Kontext der Religion wider? Für die Griechen bedeutet kennen,sehen oder wissen, im Hebräisch aber heißt kennen erfahren. Für Hebräer, Israeliten ist das Primäre nicht Gott anzuschauen, sondern Gott zu erfahren, mit Gott in Verbindung zu kommen. Demnach steht für Israeliten, nicht die religiöse Betrachtung und innere Sammlung an erster Stelle, sondern die Möglichkeit, mit Gott einen Bund zu schließen, so wie Gott einen Bund mit Abraham, mit Mose oder mit den Israeliten schloss.

Vor diesem Hintergrund verstehen wir, was der gute Hirte gemeint hat mit den Worten: „Ich bin der gute Hirt; ich kenne die Meinen, und die Meinen kennen mich.“ (Joh 10,14).

Dieses gegenseitige Kennen des Hirten und seiner Schafe, Christus und sein Volk, bedeutet nicht einfach kennen oder sehen, sondern es stellt eine intime, innige Verbundenheit dar und spiegelt sich in der intimen Liebe zwischen Gott dem Vater und seinem Sohn Jesus Christus. „Ich bin der gute Hirt; ich kenne die Meinen, und die Meinen kennen mich.“ (Joh 10,14) Wie ist diese Verbundenheit zu verstehen? Der nächste Satz erläutert das: „wie mich der Vater kennt und ich den Vater kenne;“ (Joh 10,15). Das heißt, wie der Sohn in seinem Vater ist, so muss auch das Volk im Sohn, Jesus Christus, sein. „Alle sollen eins sein: Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir bin, sollen auch sie in uns sein, damit die Welt glaubt, dass du mich gesandt hast.“ (Joh 17,21).

Oft fehlt uns Christen diese Erfahrung mit Gott, die Erfahrung mit Jesu Christi. Viele Christen sind in ihrer Religion vom alt-griechischen Sinn des Wortes Gott kennen, von Gott wissen, angetan und nicht vom israelitischen Sinn, mit Gott in Verbindung kommen.

Viele sagen, ich glaube an Gott, dabei meinen sie, ich weiß, dass da ein Gott ist.Viele haben ein wunderbares Wissen über Gott oder Jesus Christus und führen oft selbst in den Familien heftige Diskussionen über Gott. Eine tiefe Theologie, feste Strukturen, Organisationen und schöne Kirchen sind alle notwendig. Haben diese Christen aber auch die Erfahrung mit Jesus Christus, haben sie Gottes-Erfahrung gesammelt? Das fehlt vielen Christen. Kein Wunder, dass uns die Welt nicht glaubt! (vgl. Joh 17,21).

Jedes Mal, wenn die Christen nach der Messe aus der Kirche gehen, gehen sie nicht leer, ohne Erfahrung der Verbundenheit mit Gott, sondern mit einer intimen und innigen Verbundenheit und Liebe zu unserem Herrn und Gott, dem Guten Hirten.

Illustration photo, Judith Cronauer