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No.5, 5th January 2006
 

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Die Theologie Vishnus

auf der Grundlage religiöser Erfahrungen der Hindus

 

 

 

Edmund Weber

 

 

 

1.1 Gott, der den Menschen die irdische Heimat errang

 Im Rigveda, der altindischen Sammlung von Gesängen des Heiligen, heißt es über Vishnu: "Mögen die Götter uns vor dem Ort, von dem aus Vishnu über die sieben Bereiche der Erde schritt, bewahren. Vishnu schritt über (das Universum); dreimal setzte er seinen Fuß auf; die Welt war in seinem Staub eingehüllt; Vishnu, der unbesiegbare Bewahrer, den niemand täuscht, tat drei Schritte; von da an setzte er seine hohen Gesetze in Kraft."[1]

Vishnu durchmaß die Welt mit drei Schritten und richtete seine Ordnung, seinen Dharma, auf. Welches aber war der Sinn des Dreischritts? Von Vishnu heißt es dazu im Rigveda: "Welcher (sc. Vishnu) wahrhaftig allein die Dreiheit Erde, Himmel und Lebewesen trägt."[2] Und das, was er bewahrt, ist ein Dreifaches: Erde, Himmel und die lebenden Wesen. Aber der entscheidende Grund für Lobwürdigkeit Vishnus besteht denn auch darin, daß er nicht nur seine Werke bewahrt, sondern durch seinen Dreischritt überhaupt erst Lebensräume für alle Wesen geschaffen hat.[3] Daß Lebensraumbeschaffung der Sinn der drei Schritte war, wird an anderer Stelle nochmals betont: "Über diese Erde schrittt mit mächtigem Tritt Vishnu, bereit sie als Heim dem Menschen zu geben. / Seinem Schutz vertraut das einfache Volk sich an, er, der Edelgeborene, hat ihnen weiträumige Wohnstatt bereitet."[4] Von diesen drei Lebensräumen weiß der rigvedische Sänger sogar zu berichten, daß in ihnen Milch und Honig fließt. Lob sei daher Vishnu "dessen drei Weltenräume voll von Süße sind."[5] Vishnu hat die irdische Welt den Menschen als Paradies erworben, denn süß ist sie, nicht ein Tal der Tränen, des Elends und der Bitterkeit. Süße verweist auf einen Zustand der Zufriedenheit und Erfülltheit. Vishnu erwirbt sich das Vertrauen des einfachen Volks, weil er ihm durch seinen Dreischritt eine erfüllte und gesicherte Existenz verschafft hat.[6]

In den wenigen rigvedischen Manifestationen Vishnus leuchtet bereits ein grundlegender Wesenszug Vishnus auf: Er liebt und umsorgt die irdische Welt.

1.2 Gottes Spiel mit den Menschen

 Das Vishnu Purana, das nach eigener Ansicht "an Heiligkeit den Veden gleich ist"[7], eröffnet über Vishnu: "Ruhm sei dem allerhöchsten Vishnu, dem Grunde von Schöpfung, Existenz und Ende dieser Welt; der die Wurzel der Welt ist, und der aus der Welt besteht."[8] Ja, Vishnu ist der, "welcher in allen Geschöpfen ist."[9]

An anderer Stelle wird sein dreifaches Verhältnis zur Welt in die Formel gefaßt: "Er ist der Schöpfer, der Bewahrer und Zerstörer der Welt."[10]

Die Welt ist weder bloße Emanation noch reine Illusion, sondern konsubstantiell mit ihrem Urheber. Im Vishnu Purana offenbart sich das Heilige unter dem Namen des Vishnu als Gestalter, Erhalter und Erneuerer der Welt. Aber ihre Substanz ist ihm nicht fremd, so daß er ihr bei der Gestaltung, Bewahrung und Veränderung Gewalt antun müßte. Der Stoff, aus dem Welt ist, das ist Vishnu selbst. Das Insgesamt der sinnlich wahrnehmbaren Dinge, die nur irrtümlich als unabhängige Wesenheiten erscheinen; in Wahrheit sind sie Vishnu selbst: "Und er ist (selbst) durch die falschen Erscheinungen hindurch auf Grund der Natur der sichtbaren Dinge bekannt."[11]

Da die Welt aus Vishnus Stoff ist, und er sie aus sich gestaltet hat, leuchtet ein, daß er sie bewahrt und immer wieder erneuert. Kein Wunder also, daß er sich nicht nur kosmogonisch, sondern auch geschichtsgestaltend, heilsökonomisch, gleichsam kosmotherapeutisch betätigt: Er regiert höchst konkret und en detail die menschliche Geschichte. Wie sehr die Welt auch aus den Fugen geraten mag, er bringt stets alles wieder ins Lot.

Als Brahma entließ er aus sich die Gesellschaftsverfassung der vier Stände: "Da waren dann nacheinander, Wesen verschiedener Varnas, Brahmanas, Kshatriyas, Vaisyas, und Shudras, hervorgebracht aus dem Mund, der Brust, den Hüften, und den Füßen Brahmas."[12] Am Zweck der Stände läßt das Vishnu Purana keinen Zweifel: "Sie erschuf er zur Durchführung der Opfer, die vier Varnas als taugliche Mittel ihrer Zelebration."[13] Der Opferkult war demnach keineswegs auf die Zweimalgeborenen oder gar nur Brahmanen beschränkt.

Die allgemeine, allen Ständen aufgetragene Opferreligion hatte die Aufgabe, den Göttern die Nahrung zu geben, die dafür dann, indem sie Regen spendeten, zum Nutzen der Menschen insbesondere die geregelte Ordnung der Schöpfung wahrten. "Mit den Opfern ... werden die Götter ernährt; und mit dem Regen, den sie schicken, wird der Menschheit geholfen."[14] Weil nun damals alle vier Stände ihre jeweiligen Pflichten gewissenhaft erfüllten, wurden die Opfer zur Quelle der Glückseligkeit. Denn: "In ihrem geheiligten Geiste wohnte Hari; sie waren erfüllt von vollkommener Weisheit; mit dieser betrachteten sie den Ruhm Vishnus."[15]

Nicht nur war also der Opferkult Recht und Pflicht aller Stände, sondern sie waren Vishnu auch religiös gleichwertig. Es gab demnach keine kastenbedingte sogenannte rituelle Reinheit oder Unreinheit - es gab für alle Stände nur den einen ihnen zugewandten Gott und ein Priestertum aller Stände.

Dann jedoch, im Treta Yuga, goß der Teil von Hari, der Kala, Zeit, genannt wird, Sünde in die Geschöpfe, so daß deren eingeborene Vollkommenheit nicht mehr hervortreten konnte: "Nach einiger Zeit (nachdem das Treta genannte Zeitalter eine Weile gedauert hatte) goß der Teil Haris, der eins mit Kala ist, in die Geschöpfe die Sünde, ..., das Hindernis für der Seele Befreiung, die Saat des Übels, der Dunkelheit und Begierde entsprungen."[16]

Die Kraft der Sünde schuf den Schmerz, und durch sie vermochten die Menschen nunmehr Kontraste wahrzunehmen, zu unterscheiden, was gut und böse, erträglich und unerträglich war. Dadurch wurde die eingeborene Vollkommenheit der menschlichen Natur nicht mehr entwickelt und so die Freiheit der Seele behindert.[17] Sie schützten sich vor den Unbilden des Wetters, indem sie Hütten bauten und begannen mit der Hände Arbeit, um sich ihren Lebensunterhalt zu verschaffen. Um das Wachstum zu sichern, wurden nunmehr täglich Opfer, die Ursache des Regens, dargebracht.

Doch da waren Menschen, in die Kala besonders viel Sünde gegossen hatte; sie verachteten die Opfer, die Götter und die Anhänger der vedischen Religion. Sie, die Buddhisten und Jainas, verfielen der Bosheit: "Jene aber, in deren Herzen der Unrat der Sünde, die von der Zeit (Kala) herrührte, noch mehr entfaltet war, stimmten den Opfern nicht zu, sondern schmähten diese (sc. Opfer) und alle ihre Wirkungen, (dazu) die Götter und die Vedaanhänger. Jene, die die Vedas schmähen, die von übler Gesinnung und Verhalten sind, sowie diejenigen, welche vom Pfad der gebotenen Pflichten abweichen, wurden in die Bosheit versenkt."[18]

Die Beseitigung der Regen bringenden Opfer durch Jainas und Buddhisten gefährdeten also die Grundlage der materiellen Existenz aller Lebewesen und Pflanzen. Sie war Ausdruck einer weltfeindlichen Einstellung, die Vishnu, dem Gestalter, Erhalter und Erneuerer der irdi schen Welt sowie seinen Verehrern zutiefst fremd war.

Um nun die gefährdete Schöpfung zu schützen, errichtete Vishnu für die menschliche Gesellschaft eine zeitweilige Notordnung: Als Brahma gab er nach dem Sündenfall den Menschen gemäß ihrem Stande und Vermögen spezifische Gesetze und wies ihnen jeweils bestimmte Himmelsregionen zu. Den Pitri-Loka-Himmel erhielten die frommen Brahmanen und Indras Königreich oder Swarga diejenigen tapferen Kshatriyas, welche nicht vom Schlachtfeld geflohen waren. Die Windregion fiel den tüchtigen und unterwürfigen Vaishyas zu. Die Shudras bekamen die Sphäre der Gandharbas, der himmlischen Geister.[19] Die Menschen aber, die ihre Pflichten vernachlässigten, die Vedas schmähten, die heiligen Riten störten, d.h. Jainas und Buddhisten vornehmlich, erhielten nach ihrem Tod ihren Platz in den Schreckensregionen der Düsternis, Melancholie und Angst sowie in der fürchterlichen Hölle der scharfen Schwerter und in der Hölle der Quälereien und des wogenlosen Meeres.[20]

Vishnus Notordnung beruht nicht auf Willkür oder Rache. Sie ist also keine rohe Gewaltherrschaft. Sie betrachtet den jeweiligen Fall und verordnet kasuistisch angemessene Maßnahmen: Wer falsches Zeugnis ablegt, kommt in die schaurige Raurava-Hölle; wer eine Abtreibung verursacht, oder eine Stadt plündert, eine Kuh tötet, einen Mann stranguliert, kommt in die Rodha-Hölle der Verstopfung; Brahmanenmörder, Goldräuber, Weintrinker kommen in die Schweinehölle; ebenso wer sich zu ihnen gesellt; der Mörder eines Mannes aus dem zweiten oder dritten Stand, oder wer schuldig ist, Unzucht mit der Ehefrau seines Gurus getrieben zu haben, kommt in die Tala, die Vorhängeschloßhölle, die Unterwelt; und wer im Inzest mit seiner Schwester lebt oder einen Botschafter mordet kommt in die Taptakumbha oder Hölle der heißen Kochkessel. Wer seinen Vater, die Brahmanen, und die Götter haßt oder kostbare Gemmen vernichtet, wird mit der Krimibhaksha-Hölle, wo es nur Würmer zu essen gibt, bestraft. Wer einen Bienenstock zerstört oder ein Dorf plündert, wird zur Vaitarani-Hölle verdammt.[21]

Auf diese Weise wurde unter den Bedingungen der eingegossenen Sünde und der Störung der Opferreligion Gerechtigkeit und Wohlergehen gesichert. Aber alle Wesen, seien sie unbeseelter Natur, oder Tiere, Menschen, heilige Männer, Götter oder befreite Seelen, und wo immer sie gerade sein mögen, ob im Himmel oder in der Hölle, "sind bestimmt voranzuschreiten, bis sie die endgültige Befreiung (aus dem Samsara) erlangt haben."[22]

Vishnu will also nicht die Lebewesen letztendlich nach ihren Taten aburteilen, sei es zum Himmel oder zur Hölle, sondern sie nach seinem Gnadenwillen - und diesen setzt der Allerhöchste in seiner Heilsgeschichte durch - aus dem Samsara befreien. Vishnu ist also ein Gott, der Vergeltung und Rache durch Vergebung und Heil ablöst. Die alte Karmareligion, die in der 'Sünde' die unbesiegbare seit Ewigkeiten wirkende Kraft, die den Samsara, das Gesetz von Tat und Vergeltung, in Gang hielt, selbst Götter beherrschte, wird von Vishnu zum bloßen göttlichen Spielzeug degradiert und damit ihrer totalen Herrschaft beraubt.

Halten wir fest: Vishnu, nicht der Mensch, hat die Sünde, die Kraft der Unterscheidung, die Fähigkeit der Wahrnehmung der Welt in Gestalt von Widrigkeiten aller Art hervorgebracht. Einen Grund dafür gibt unser Zeugnis nicht an. Dies ist verständlich, denn eine aus Enttäuschung oder Zorn geborene Vergeltungs- und Racheabsicht Vishnus macht deshalb keinen Sinn, weil es vor der Sündenausgießung Kalas keine bösen Handlungen geben konnte. Das Ausgießen der Sünde ist also nicht vom Menschen verursacht, sondern ein Spiel Gottes.

Um aber den Menschen nicht hilflos den angemessenen Folgen der Sünde, der Vergeltung und Rache, zu überlassen, wurden der Situation angepaßte, die harte Gerechtigkeit, die Vernichtung hervorgebracht hätte, zurückdrängende kasuistische Verordnungen erlassen und entsprechende Strukturen geschaffen.

Er wird daher nicht nur als Gestalter und Erhalter, sondern auch als Erneuerer der Welt gefeiert, als "Vasudeva, als "Befreier seiner Verehrer."[23]

Die letztendliche allgemeine Erlösung aller Wesen ist ebenfalls nicht vom Menschen ausgelöst, sondern ein Spiel Gottes. Die Erlösung von der Sünde wäre dem Menschen, hätte er sie hervorgebracht oder wäre sie von Natur aus gegeben, vielleicht möglich gewesen - so jedenfalls lehrt die reine Karmareligion. Aber weil die Sünde Vishnus Spielwerk ist, kann auch nur er sie wieder aufheben. Er tut es, indem er die Lebewesen dazu bestimmt hat, irgendwann aus dem durch die Sünde hervorgebrachten Samsara, der vom Karma in Bewegung gehalten wird, auszuscheren. Geschieht dieser Spielakt, kann der Mensch endlich den Dharma vollkommen realisieren und damit sich des Shris, des Glücks Vishnus, grenzenlos erfreuen.

Die Vishnutheologie negiert also die unbegrenzte Autonomie und Automatik des Vergeltungsgesetzes, des vom Karma prädestinierten Samsara, und behauptet entschieden dagegen die Unbedingtheit des Heilswillens Vishnus. Weder Sünde noch Heil sind karmische, von Menschen gewirkte Früchte. Vishnu offenbart, indem er sich alleine die Verantwortung und Zuständigkeit für Sünde und Heil vorbehält, daß der Mensch keine Befugnis und Macht hat, diese existentiellen Zustände zu bewirken, zu verhindern oder gar zu beseitigen. Sie gehören in die Dimension des göttlichen Spiels, in die dem Menschen unverfügbare Welt seiner Lilas.

1.3 Gott und sein Gesetz

Im Bhagavata Purana ist Vishnu der größte Gott. Er steht über Brahma und Shiva. Erklärt wird dies mit folgender für die Vishnutheologie grundlegender Geschichte: Die Rishis, die Seher der göttlichen Wahrheit,[24] stritten einst darüber, wer von den drei Göttern, Brahma, Shiva oder Vishnu, der größte sei. Sie schickten schließlich den Brahmanen Bhrigu, den Sohn des Brahma, aus, das Problem zu klären. Dieser eilte zuerst zu seinem Vater, betrat ohne ihm irgendwelche Ehre zu erweisen dessen Hof. Brahma geriet wegen dieser Respektlosigkeit Bhrigus zwar in Wut, besänftigte sich aber, weil er sah, daß es sein eigener Sohn war, der sich derart respektlos verhielt. Bhrigu beleidigte danach Shiva, indem er dessen Willkommensumarmung brüsk zurückwies und ihn u.a. als Ketzer beschimpfte. Nur durch Intervention von Parvati konnte Shiva davon abgehalten werden, in seiner Wut Bhrigu mit dem Dreizack zu töten. Dann eilte der Seher zu Vishnus Himmel.

"God Vishnu", so das Bhagavata Purana, "lag derweil im Schoße der Göttin Shri (Lakshmi). Bhrigu stieß mit einem Fuß an dessen Brust. Der glorreiche Herr Vishnu, die Zuflucht aller Heiligen, erhob sich zur Begrüßung zusammen mit der Göttin Lakshmi. Er verließ seine Bettstatt, verbeugte sich respektvoll vor dem Seher und sprach zu ihm: 'Sei willkommen, brahmanischer Seher! Bitte nimm Platz auf dem bequemen Sitz und ruhe Dich ein wenig aus. Mächtiger Seher, geruhe uns zu vergeben, daß wir Deine Ankunft nicht bemerkt haben. Hochwürdiger Seher! Deine Füße sind so zart und fein, mein Lieber!'

Mit diesen Worten begann Gott Vishnu die Füße des Brahmanen mit seinen eigenen Händen geschmeidig zu massieren. 'Sei so gütig, mich zusammen mit meinem Reich und den Weltbeschützern, die in mir sind, mit dem Wasser, mit dem Deine Füße bei (Dir geltenden) dem Gottesdienst gewaschen werden, - Wasser, welches sogar noch die heiligen Wasser der heiligen Stätten heiligt.

Verehrungswürdiger Herr! Von diesem Tage an bin ich die einzige Wohnstatt der Göttin Lakshmi gewesen. Weil meine Sünden vollständig durch die Berührung Deiner Füße abgewaschen worden sind, wird die Göttin des Glücks immer an meiner Brust wohnen. Und laß das Zeichen (Deines Fußabdrucks) unter dem Namen Shri Vatsa bekannt sein.'[25]

Die grundlegende Bedeutung dieser Erzählung für die Theologie Vishnus ist klar: Der Dharma, die Ordnung der Welt, erhält von Vishnu eine solche Autorität, daß er, der Gesetzgeber selbst, seinem Gesetz höchste Achtung entgegenbringt. Diese Achtung aber hat extreme moralische Folgen: Statt selbstbezogenen Leidenschaften zu frönen, unterwirft er sich seinem eigenen Dharma. Es ist aber Vorschrift des Dharma, einen Brahmanen mit allen Ehren zu empfangen und zu versorgen. Da Vishnu dies zunächst versäumt, hat er sich schuldig gemacht und Sünde auf sich geladen. Im Respekt vor dem Dharma bekennt er vor dem Brahmanen seine Schuld und geht dann sofort zur Erfüllung der Gastgeberpflichten über. Daß er es wagen konnte, ob dieser Verunreinigung dem Brahmanen seinen Dienst zu erweisen, erklärt Vishnu selbst: Seine Sünde war bereits durch die Berührung mit dem noch staubigen Fuß des Brahmanen ausgelöscht worden. Vishnu ehrt also den Brahmanen, indem er dessen Erstrangigkeit und Heiligkeit anerkennt und sich dessen Eigenschaften entsprechend verhält: Er, der Gott, dient dem Gast, denn nach dem Dharma ist der Gast Gott. Daß Vishnu Shri Lakshmi, das Glück, das nunmehr auf seiner Brust ruht, nicht durch dieses gastfreie Verhalten erworben hat, dieses kein meritorisches Werk ist, stellt er unmißverständlich klar: sein Glück ist allein Wirkung der Berührung durch den Fuß des Brahmanen.

1.4 Inter-theologische Schlußfolgerungen

Vishnu ehrt in Wahrheit den Dharma, der ein solches gastfreies Tun vorschreibt. Dieses Handeln ist jedoch kein karmisch-meritorisches Werk, getan, um Himmelsfreuden oder Schuldvergebung zu erwerben. Es ist freie Pflichttat, getan aus Achtung vor dem Gesetz.

Dadurch aber, daß er dem Dharma, den er den Menschen gegeben hat, selbst in allen Konsequenzen folgt, verleiht er ihm die größte Vertrauenswürdigkeit. Der selbstwertige Dharma muß, wenn schon Gott sich ihm frei unterwirft, erst recht von den Menschen befolgt werden.

Weil der Dharma aber kein Mittel zu einem außerhalb seiner liegenden Zweck ist, daß irdische Gesetzeshandeln also weder letzte Erhöhung noch letzte Verwerfung nach sich zieht, ist auch die irdische Welt, von Vishnu selbst den Menschen als süße Heimat erschritten, kein Ort bloßer des meritorischen Karma, oder gar des Verderbens, von dem man in den Himmel entfliehen möchte. Sie ist vielmehr der Ort des sinnstiftenden Dharma-Lebens, das endgültige dharmische Paradies.

Vishnus Dharma erweist sich, weil er Gott und Mensch umfaßt, zugleich als Fundament für eine vertrauenswürdige und damit verläßliche Gemeinschaft Gottes mit seinen Geschöpfen. Ungleich den Asuras, den Dämonen, die nur ihre selbstbezogenen Leidenschaften befriedigen und dazu die Lebewesen ohne Recht und Gesetz unterdrücken und ausbeuten, zeigt Vishnu mit dem allgültigen Dharma seine mitmenschliche Solidarität.

Indem Vishnu ein wahrhaft universales Gesetz verkündet, das das Glück aller Wesen, Gottes sowohl als auch der Menschen, ist, und vor dem alle Stände Himmels und der Erde gleich sind, stiftet er eine wirkliche und solidarische Gemeinschaft aller Kasten. Weil allen Wesen dasselbe Gesetz in gleicher Weise als tragender und verbindender Grund gegeben ist, können sowohl die Menschen untereinander als auch Gott mit ihnen Solidarität erleben.

Daß Vishnu nicht nur die Menschen dem Dharma anheimstellte, sondern ebenso sich selbst, erschütterte die Rishis zutiefst; aber Vishnus Gesetzestreue überzeugte sie vollkommen davon, daß er der Allerhöchste ist. Sie entschieden sich daher auch, sich der Religion Vishnus, die diesen Dharma, dieses Gott und Mensch verbindende Gesetz bewahrte, zu verschreiben. In ihren Augen waren weder die Shiva- noch die altbrahmanische Religion in der Lage, dem Dharma solche Kraft zu entlocken, wie es Vishnu tat.

Die Erfahrung dieser kraftvollen Religion, dieses neuen heiligen Wissens, hat die Rishis zu einem revolutionären Schritt veranlaßt. Im krassen Widerspruch zu ihrer eignen bisherigen Religion beschlossen sie, dieses neue heilige Wissen nicht sich selbst vorzubehalten, sondern allem Volke - gleich welcher Kaste und Reinheitsstufe - zu verkünden. Sie setzten damit die traditionelle Übung der Brahmanen außer Kraft, das heilige Wissen, hier um den Dharma, von den Ohren der niederen Kasten fern zu halten. Sie beschlossen, den bislang religiös-moralisch Ungebildeten die "Zweifel" zu zerstreuen, indem sie ihnen von der Würde des Gesetzes, dem Gott sich selbst unterworfen hatte, erzählten.

Die Folge der Achtung Gottes vor seinem Dharma bestand also nicht nur darin, daß der neue Veda Vishnus auch den Unreinen zugänglich gemacht wurde, sondern auch, daß sich ihnen die Rishis als Gurus zur Verfügung stellten.

Mit dieser wahrhaft revolutionären Abkehr von den bisherigen elitären Religionen, der brahmanischen Priesterreligion des Brahma und der exzentrischen Yoga-Religion der Mahadevas entstand die erste, universalistische, weil standesübergreifende Massenreligion Indiens. Sie trat gegen die allmächtige Karmareligion an, indem sie den Dharma nicht mehr karmisch-meritorisch pervertierte, sondern als endgültige Wahrheit selbst konstituierte. Die Rishis erkannten, daß das Tun des Dharma selbst göttlicher Natur ist, daß es keinen Zweck gibt, für den er ein bloßes Mittel sein könnte. Sie entschieden sich somit für das freie Gesetz, die freie Liebe, und damit wider die geknechtete Liebe, die Werkgerechtigkeit.[26]

 (Forts. folgt)


 


[1] The Hymns of the Rgveda. Tr. by Ralph T.H. Griffith. Edited by J.L. Shastri. Delhi 1973 [=RV], I.22.16-18: "The Gods be gracious unto us even from the place whence Vishnu strode / Through the seven regions of the earth! / Through all this world strode Vishnu; thrice his foot he planted, and the whole / Was gathered in his footstep's dust. / Visnu the Guardian, he whom none deceiveth, made three steps; thence-forth / Establishing his high decrees."

[2] RV I.154.4b: "Who (sc. Vishnu) verily alone upholds the threefold, the earth, the heaven, and all living beings."

[3] RV I.154.2: "within whose (sc. Vishnu's) three wide-extended paces all living creatures have their habitation."

[4] RV VII.100.4: "Over this earth with mighty steps strode Vishnu, ready to give it for a home to Manu. / In him the humble people trust for safety; he, nobly born, hath made them spacious dwellings."

[5] RV I.154.4a: "whose three places that are filled with sweetness."

[6] Später wird dieser heilskosmische sog. Trivikrama- oder Dreischritt-Mythos mit dem heilsgeschichtlichen Mythos vom Avatar Vamana, dem Zwerg, der durch eine solche Tat, den Dämon besiegte, verbunden.

[7] The Vishnu Purana. Tr. by H. H. Wilson, Calcutta 1972 [= ViP] I/1 p. 3:"equal in sanctity to the Vedas."

[8] ViP I/2 p. 7: "Glory to the supreme Vishnu, the cause of the creation, existence, and end of this world; who is the root of the world, and who consists of the world."

[9] ViP I/2 p. 7: "who is in all created things."

[10] ViP I/2 p. 6: "He is the creator, the preserver and destroyer of the world."

[11] ViP I/2 p. 7: "And who is known through false appearances by the nature of visible objects."

[12] ViP I/6 p. 39: "These were in succession, beings of the several castes, Brahmans, Kshatriyas, Vaisyas, and Sudra, produced from the mouth, the breast, the tighs, and the feet of Brahma."

[13] ViP I/6 p. 39: "These he created for the performance of sacrifices, the four castes being fit instruments of their celebration."

[14] ViP I/6 p. 39: "By sacrifices ... the gods are nourished; and by the rain which they bestow, mankind are supported."

[15] ViP I/6 p. 39: "In their sanctified minds Hari dwelt; and they were filled with perfect wisdom, by which they contemplated the glory of Vishnus."

[16] ViP I/6 p. 39: "After a while (after the Treta age had continued for some period), that portion of Hari which has been described as one with Kala (time) infused into things sin, ..., the impediment of soul's liberation, the seed of iniquity, sprung from darkness and desire."

[17] ViP I/6 p. 40

[18] ViP I/6 p. 41: "Those, however, in whose hearts the dross of sin derived from Time (Kala) was still more developed, assented not to sacrifices, but reviled both them and all that resulted from them, the gods, and the followers of the Vedas. Those abusers of the Vedas, of evil disposition and conduct, and seceders from the path of enjoined duties, were plunged in wickedness".

[19] ViP I/6 p. 41-42

[20] ViP I/6 p. 42

[21] ViP II/6, p. 171-172

[22] ViP II/6 p. 172-173: "the beings that are either in heaven or in hell are destined to proceed, until final emancipation be obtained."

[23] ViP I/2 S. 6: "the liberator of his worshippers."

[24] Den Rishis wurden die Veden geoffenbart; sie gelten daher den Hindus als die höchsten Autoritäten.

[25] The Bhagavata Purana. Tr. & Annotated by GaneshVasudeo Tagare, IV, Delhi 1978, [=BhP], X. 89.1-15.20: "On one occasion, sages were engaged in performing a sacrificial session (of a long duration). 0 king, in that session a question was raised for discussion as to who of the trinity of the ruling gods (i.e. Brahma, Vishnu, and Shiva) was the greatest. In order to satisfy their curiosity, they deputed the sage Bhrigu, the son of god Brahma, to ascertain the truth. And he went to the assembly of god Brahma. In order to test the worth of that god, Bhrigu, did not pay him homage or chant any hymn in his praise. The worshipful god Brahma (took it as an affront and) was enraged with him, and was as if aglow with his burning wrath. Considering that the insulting person was his own son, the self-born god Brahma quenched the fiery wrath provoked in his mind, by restraining himself, just as fire is extinguished by water (which is its own product.) From the assembly of god Brahma, he repaired to mount Kailasa (the abode of god Shiva). God Mahadeva was delighted (at his brother's surprise visit) and arising from his seat, he proceeded to embrace him. But Bhrigu showed no desire for it (avoiding him) with the remark, 'you tread evil path, (flouting the authority of the Vedas' you have adopted the heretic way of life and apply ashes of dead bodies from burning grounds). The tradition goes that the god flew in rage and with fiery eyes, he snatched up his trident and rushed forth to strike him. His consort Parvati, however, fell at his feet and pacified him with sweet words. Thereupon Bhrigu proceeded to Vaikuntha where Lord Vishnu abides. God Vishnu was then lying on the lap of the goddess Shri (Lakshmi). Bhrigu kicked Him with his foot on his chest. The glorious Lord Vishnu, the resort of all saints, got up (in reverence) along with the goddess Lakshmi. He alighted from the bed-stead and bowing down reverentially to the sage addressed him, 'Welcome O Brahmana sage; please have some comfortable rest on the seat for a while. O mighty sage, it beho(o)ves you to forgive us, as we were not aware of your arrival. O great sage! Your feet are so very soft and delicate, my dear!' With these words he began to massage soothingly the feet of the Brahmana with his own hands. 'Be pleased to purify me along with my realm and the protectors of the world that are within rne, with the water washing the feet of your worship-water which sanctifies even the holy waters of sacred places. Worshipful sire! From to-day I have been the sole abode of goddess Lakshmi. With my sins completely washed off by the touch of your feet (which symbolise knowledge) the goddess of prosperity (Lakshmi in the form of Shri Vatsa mark) shall ever reside on my bosom.' Shri Shuka said: When Lord Vishnu addressed him thus, Bhrigu felt deeply satisfied and happy with his melodious words in a deep low tone. He remained silent as his voice was choked with over-whelming feeling of devotion, his eyes, over-flowing with tears. Returning to the place of that sacrificial session, Bhrigu fully recounted to those sages who were well-versed in the Vedas, what he experienced (in the realm of the three gods). Listening to that report the sages were wonder-struck and had their doubt (about the supremacy of the three gods) dispelled. They came to believe god Vishnu to be the Supreme-most god, who bestows tranquility and fearless State (Moksha). ... Shri Shuka said: In this way, the Brahmanas who were performing the sacrifice, came to this conclusion for dispelling the doubts of the people. By worshipping the lotus-feet of the Supreme Person, they attained to his blissful state."

[26] Vgl. Edmund Weber: Freie Liebe und bhakti. Zur Konvergenz der Gottesliebe bei Martin Luther und Shri Krishna Caitanya. THEION - Jahrbuch für Religionskultur, Band 2, 1993, S. 155 ff.

   
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