|
1.1 Gott, der den
Menschen die irdische Heimat errang
Im Rigveda, der altindischen
Sammlung von Gesängen des Heiligen, heißt es über Vishnu: "Mögen die Götter uns
vor dem Ort, von dem aus Vishnu über die sieben Bereiche der Erde schritt,
bewahren. Vishnu schritt über (das Universum); dreimal setzte er seinen Fuß auf;
die Welt war in seinem Staub eingehüllt; Vishnu, der unbesiegbare Bewahrer, den
niemand täuscht, tat drei Schritte; von da an setzte er seine hohen Gesetze in
Kraft."[1]
Vishnu durchmaß die Welt mit drei
Schritten und richtete seine Ordnung, seinen Dharma, auf. Welches aber war der
Sinn des Dreischritts? Von Vishnu heißt es dazu im Rigveda: "Welcher (sc.
Vishnu) wahrhaftig allein die Dreiheit Erde, Himmel und Lebewesen trägt."[2]
Und das, was er bewahrt, ist ein Dreifaches: Erde, Himmel und die lebenden
Wesen. Aber der entscheidende Grund für Lobwürdigkeit Vishnus besteht denn auch
darin, daß er nicht nur seine Werke bewahrt, sondern durch seinen Dreischritt
überhaupt erst Lebensräume für alle Wesen geschaffen hat.[3]
Daß Lebensraumbeschaffung der Sinn der drei Schritte war, wird an anderer Stelle
nochmals betont: "Über diese Erde schrittt mit mächtigem Tritt Vishnu, bereit
sie als Heim dem Menschen zu geben. / Seinem Schutz vertraut das einfache Volk
sich an, er, der Edelgeborene, hat ihnen weiträumige Wohnstatt bereitet."[4]
Von diesen drei Lebensräumen weiß der rigvedische Sänger sogar zu berichten, daß
in ihnen Milch und Honig fließt. Lob sei daher Vishnu "dessen drei Weltenräume
voll von Süße sind."[5]
Vishnu hat die irdische Welt den Menschen als Paradies erworben, denn süß ist
sie, nicht ein Tal der Tränen, des Elends und der Bitterkeit. Süße verweist auf
einen Zustand der Zufriedenheit und Erfülltheit. Vishnu erwirbt sich das
Vertrauen des einfachen Volks, weil er ihm durch seinen Dreischritt eine
erfüllte und gesicherte Existenz verschafft hat.[6]
In den wenigen rigvedischen
Manifestationen Vishnus leuchtet bereits ein grundlegender Wesenszug Vishnus
auf: Er liebt und umsorgt die irdische Welt.
1.2 Gottes Spiel
mit den Menschen
Das Vishnu Purana, das nach
eigener Ansicht "an Heiligkeit den Veden gleich ist"[7],
eröffnet über Vishnu: "Ruhm sei dem allerhöchsten Vishnu, dem Grunde von
Schöpfung, Existenz und Ende dieser Welt; der die Wurzel der Welt ist, und der
aus der Welt besteht."[8]
Ja, Vishnu ist der, "welcher in allen Geschöpfen ist."[9]
An anderer Stelle wird sein
dreifaches Verhältnis zur Welt in die Formel gefaßt: "Er ist der Schöpfer, der
Bewahrer und Zerstörer der Welt."[10]
Die Welt ist weder bloße Emanation
noch reine Illusion, sondern konsubstantiell mit ihrem Urheber. Im Vishnu
Purana offenbart sich das Heilige unter dem Namen des Vishnu als Gestalter,
Erhalter und Erneuerer der Welt. Aber ihre Substanz ist ihm nicht fremd, so daß
er ihr bei der Gestaltung, Bewahrung und Veränderung Gewalt antun müßte. Der
Stoff, aus dem Welt ist, das ist Vishnu selbst. Das Insgesamt der sinnlich
wahrnehmbaren Dinge, die nur irrtümlich als unabhängige Wesenheiten erscheinen;
in Wahrheit sind sie Vishnu selbst: "Und er ist (selbst) durch die falschen
Erscheinungen hindurch auf Grund der Natur der sichtbaren Dinge bekannt."[11]
Da die Welt aus Vishnus Stoff ist,
und er sie aus sich gestaltet hat, leuchtet ein, daß er sie bewahrt und immer
wieder erneuert. Kein Wunder also, daß er sich nicht nur kosmogonisch, sondern
auch geschichtsgestaltend, heilsökonomisch, gleichsam kosmotherapeutisch
betätigt: Er regiert höchst konkret und en detail die menschliche Geschichte.
Wie sehr die Welt auch aus den Fugen geraten mag, er bringt stets alles wieder
ins Lot.
Als Brahma entließ er aus sich die
Gesellschaftsverfassung der vier Stände: "Da waren dann nacheinander, Wesen
verschiedener Varnas, Brahmanas, Kshatriyas, Vaisyas, und Shudras,
hervorgebracht aus dem Mund, der Brust, den Hüften, und den Füßen Brahmas."[12]
Am Zweck der Stände läßt das Vishnu Purana keinen Zweifel: "Sie erschuf er zur
Durchführung der Opfer, die vier Varnas als taugliche Mittel ihrer Zelebration."[13]
Der Opferkult war demnach keineswegs auf die Zweimalgeborenen oder gar nur
Brahmanen beschränkt.
Die allgemeine, allen Ständen
aufgetragene Opferreligion hatte die Aufgabe, den Göttern die Nahrung zu geben,
die dafür dann, indem sie Regen spendeten, zum Nutzen der Menschen insbesondere
die geregelte Ordnung der Schöpfung wahrten. "Mit den Opfern ... werden die
Götter ernährt; und mit dem Regen, den sie schicken, wird der Menschheit
geholfen."[14]
Weil nun damals alle vier Stände ihre jeweiligen Pflichten gewissenhaft
erfüllten, wurden die Opfer zur Quelle der Glückseligkeit. Denn: "In ihrem
geheiligten Geiste wohnte Hari; sie waren erfüllt von vollkommener Weisheit; mit
dieser betrachteten sie den Ruhm Vishnus."[15]
Nicht nur war also der Opferkult
Recht und Pflicht aller Stände, sondern sie waren Vishnu auch religiös
gleichwertig. Es gab demnach keine kastenbedingte sogenannte rituelle Reinheit
oder Unreinheit - es gab für alle Stände nur den einen ihnen zugewandten
Gott und ein Priestertum aller Stände.
Dann jedoch, im Treta Yuga, goß der
Teil von Hari, der Kala, Zeit, genannt wird, Sünde in die Geschöpfe, so daß
deren eingeborene Vollkommenheit nicht mehr hervortreten konnte: "Nach einiger
Zeit (nachdem das Treta genannte Zeitalter eine Weile gedauert hatte) goß der
Teil Haris, der eins mit Kala ist, in die Geschöpfe die Sünde, ..., das
Hindernis für der Seele Befreiung, die Saat des Übels, der Dunkelheit und
Begierde entsprungen."[16]
Die Kraft der Sünde schuf den
Schmerz, und durch sie vermochten die Menschen nunmehr Kontraste wahrzunehmen,
zu unterscheiden, was gut und böse, erträglich und unerträglich war. Dadurch
wurde die eingeborene Vollkommenheit der menschlichen Natur nicht mehr
entwickelt und so die Freiheit der Seele behindert.[17]
Sie schützten sich vor den Unbilden des Wetters, indem sie Hütten bauten und
begannen mit der Hände Arbeit, um sich ihren Lebensunterhalt zu verschaffen. Um
das Wachstum zu sichern, wurden nunmehr täglich Opfer, die Ursache des Regens,
dargebracht.
Doch da waren Menschen, in die Kala
besonders viel Sünde gegossen hatte; sie verachteten die Opfer, die Götter und
die Anhänger der vedischen Religion. Sie, die Buddhisten und Jainas, verfielen
der Bosheit: "Jene aber, in deren Herzen der Unrat der Sünde, die von der Zeit
(Kala) herrührte, noch mehr entfaltet war, stimmten den Opfern nicht zu, sondern
schmähten diese (sc. Opfer) und alle ihre Wirkungen, (dazu) die Götter und die
Vedaanhänger. Jene, die die Vedas schmähen, die von übler Gesinnung und
Verhalten sind, sowie diejenigen, welche vom Pfad der gebotenen Pflichten
abweichen, wurden in die Bosheit versenkt."[18]
Die Beseitigung der Regen bringenden
Opfer durch Jainas und Buddhisten gefährdeten also die Grundlage der materiellen
Existenz aller Lebewesen und Pflanzen. Sie war Ausdruck einer weltfeindlichen
Einstellung, die Vishnu, dem Gestalter, Erhalter und Erneuerer der irdi schen
Welt sowie seinen Verehrern zutiefst fremd war.
Um nun die gefährdete Schöpfung zu
schützen, errichtete Vishnu für die menschliche Gesellschaft eine zeitweilige
Notordnung: Als Brahma gab er nach dem Sündenfall den Menschen gemäß ihrem
Stande und Vermögen spezifische Gesetze und wies ihnen jeweils bestimmte
Himmelsregionen zu. Den Pitri-Loka-Himmel erhielten die frommen Brahmanen und
Indras Königreich oder Swarga diejenigen tapferen Kshatriyas, welche nicht vom
Schlachtfeld geflohen waren. Die Windregion fiel den tüchtigen und unterwürfigen
Vaishyas zu. Die Shudras bekamen die Sphäre der Gandharbas, der himmlischen
Geister.[19]
Die Menschen aber, die ihre Pflichten vernachlässigten, die Vedas schmähten, die
heiligen Riten störten, d.h. Jainas und Buddhisten vornehmlich, erhielten nach
ihrem Tod ihren Platz in den Schreckensregionen der Düsternis, Melancholie und
Angst sowie in der fürchterlichen Hölle der scharfen Schwerter und in der Hölle
der Quälereien und des wogenlosen Meeres.[20]
Vishnus Notordnung beruht nicht auf
Willkür oder Rache. Sie ist also keine rohe Gewaltherrschaft. Sie betrachtet den
jeweiligen Fall und verordnet kasuistisch angemessene Maßnahmen: Wer falsches
Zeugnis ablegt, kommt in die schaurige Raurava-Hölle; wer eine Abtreibung
verursacht, oder eine Stadt plündert, eine Kuh tötet, einen Mann stranguliert,
kommt in die Rodha-Hölle der Verstopfung; Brahmanenmörder, Goldräuber,
Weintrinker kommen in die Schweinehölle; ebenso wer sich zu ihnen gesellt; der
Mörder eines Mannes aus dem zweiten oder dritten Stand, oder wer schuldig ist,
Unzucht mit der Ehefrau seines Gurus getrieben zu haben, kommt in die Tala, die
Vorhängeschloßhölle, die Unterwelt; und wer im Inzest mit seiner Schwester lebt
oder einen Botschafter mordet kommt in die Taptakumbha oder Hölle der heißen
Kochkessel. Wer seinen Vater, die Brahmanen, und die Götter haßt oder kostbare
Gemmen vernichtet, wird mit der Krimibhaksha-Hölle, wo es nur Würmer zu essen
gibt, bestraft. Wer einen Bienenstock zerstört oder ein Dorf plündert, wird zur
Vaitarani-Hölle verdammt.[21]
Auf diese Weise wurde unter den
Bedingungen der eingegossenen Sünde und der Störung der Opferreligion
Gerechtigkeit und Wohlergehen gesichert. Aber alle Wesen, seien sie unbeseelter
Natur, oder Tiere, Menschen, heilige Männer, Götter oder befreite Seelen, und wo
immer sie gerade sein mögen, ob im Himmel oder in der Hölle, "sind bestimmt
voranzuschreiten, bis sie die endgültige Befreiung (aus dem Samsara) erlangt
haben."[22]
Vishnu will also nicht die Lebewesen
letztendlich nach ihren Taten aburteilen, sei es zum Himmel oder zur Hölle,
sondern sie nach seinem Gnadenwillen - und diesen setzt der Allerhöchste in
seiner Heilsgeschichte durch - aus dem Samsara befreien. Vishnu ist also ein
Gott, der Vergeltung und Rache durch Vergebung und Heil ablöst. Die alte
Karmareligion, die in der 'Sünde' die unbesiegbare seit Ewigkeiten wirkende
Kraft, die den Samsara, das Gesetz von Tat und Vergeltung, in Gang hielt, selbst
Götter beherrschte, wird von Vishnu zum bloßen göttlichen Spielzeug degradiert
und damit ihrer totalen Herrschaft beraubt.
Halten wir fest: Vishnu, nicht der
Mensch, hat die Sünde, die Kraft der Unterscheidung, die Fähigkeit der
Wahrnehmung der Welt in Gestalt von Widrigkeiten aller Art hervorgebracht. Einen
Grund dafür gibt unser Zeugnis nicht an. Dies ist verständlich, denn eine aus
Enttäuschung oder Zorn geborene Vergeltungs- und Racheabsicht Vishnus macht
deshalb keinen Sinn, weil es vor der Sündenausgießung Kalas keine bösen
Handlungen geben konnte. Das Ausgießen der Sünde ist also nicht vom Menschen
verursacht, sondern ein Spiel Gottes.
Um aber den Menschen nicht hilflos
den angemessenen Folgen der Sünde, der Vergeltung und Rache, zu überlassen,
wurden der Situation angepaßte, die harte Gerechtigkeit, die Vernichtung
hervorgebracht hätte, zurückdrängende kasuistische Verordnungen erlassen und
entsprechende Strukturen geschaffen.
Er wird daher nicht nur als
Gestalter und Erhalter, sondern auch als Erneuerer der Welt gefeiert, als
"Vasudeva, als "Befreier seiner Verehrer."[23]
Die letztendliche allgemeine
Erlösung aller Wesen ist ebenfalls nicht vom Menschen ausgelöst, sondern ein
Spiel Gottes. Die Erlösung von der Sünde wäre dem Menschen, hätte er sie
hervorgebracht oder wäre sie von Natur aus gegeben, vielleicht möglich gewesen -
so jedenfalls lehrt die reine Karmareligion. Aber weil die Sünde Vishnus
Spielwerk ist, kann auch nur er sie wieder aufheben. Er tut es, indem er die
Lebewesen dazu bestimmt hat, irgendwann aus dem durch die Sünde hervorgebrachten
Samsara, der vom Karma in Bewegung gehalten wird, auszuscheren. Geschieht dieser
Spielakt, kann der Mensch endlich den Dharma vollkommen realisieren und damit
sich des Shris, des Glücks Vishnus, grenzenlos erfreuen.
Die Vishnutheologie negiert also die
unbegrenzte Autonomie und Automatik des Vergeltungsgesetzes, des vom Karma
prädestinierten Samsara, und behauptet entschieden dagegen die Unbedingtheit des
Heilswillens Vishnus. Weder Sünde noch Heil sind karmische, von Menschen
gewirkte Früchte. Vishnu offenbart, indem er sich alleine die Verantwortung und
Zuständigkeit für Sünde und Heil vorbehält, daß der Mensch keine Befugnis und
Macht hat, diese existentiellen Zustände zu bewirken, zu verhindern oder gar zu
beseitigen. Sie gehören in die Dimension des göttlichen Spiels, in die dem
Menschen unverfügbare Welt seiner Lilas.
1.3
Gott und sein Gesetz
Im Bhagavata Purana ist
Vishnu der größte Gott. Er steht über Brahma und Shiva. Erklärt wird dies mit
folgender für die Vishnutheologie grundlegender Geschichte: Die Rishis, die
Seher der göttlichen Wahrheit,[24]
stritten einst darüber, wer von den drei Göttern, Brahma, Shiva oder Vishnu, der
größte sei. Sie schickten schließlich den Brahmanen Bhrigu, den Sohn des Brahma,
aus, das Problem zu klären. Dieser eilte zuerst zu seinem Vater, betrat ohne ihm
irgendwelche Ehre zu erweisen dessen Hof. Brahma geriet wegen dieser
Respektlosigkeit Bhrigus zwar in Wut, besänftigte sich aber, weil er sah, daß es
sein eigener Sohn war, der sich derart respektlos verhielt. Bhrigu beleidigte
danach Shiva, indem er dessen Willkommensumarmung brüsk zurückwies und ihn u.a.
als Ketzer beschimpfte. Nur durch Intervention von Parvati konnte Shiva davon
abgehalten werden, in seiner Wut Bhrigu mit dem Dreizack zu töten. Dann eilte
der Seher zu Vishnus Himmel.
"God Vishnu", so das Bhagavata
Purana, "lag derweil im Schoße der Göttin Shri (Lakshmi). Bhrigu stieß mit
einem Fuß an dessen Brust. Der glorreiche Herr Vishnu, die Zuflucht aller
Heiligen, erhob sich zur Begrüßung zusammen mit der Göttin Lakshmi. Er verließ
seine Bettstatt, verbeugte sich respektvoll vor dem Seher und sprach zu ihm:
'Sei willkommen, brahmanischer Seher! Bitte nimm Platz auf dem bequemen Sitz und
ruhe Dich ein wenig aus. Mächtiger Seher, geruhe uns zu vergeben, daß wir Deine
Ankunft nicht bemerkt haben. Hochwürdiger Seher! Deine Füße sind so zart und
fein, mein Lieber!'
Mit diesen Worten begann Gott Vishnu
die Füße des Brahmanen mit seinen eigenen Händen geschmeidig zu massieren. 'Sei
so gütig, mich zusammen mit meinem Reich und den Weltbeschützern, die in mir
sind, mit dem Wasser, mit dem Deine Füße bei (Dir geltenden) dem Gottesdienst
gewaschen werden, - Wasser, welches sogar noch die heiligen Wasser der heiligen
Stätten heiligt.
Verehrungswürdiger Herr! Von diesem
Tage an bin ich die einzige Wohnstatt der Göttin Lakshmi gewesen. Weil meine
Sünden vollständig durch die Berührung Deiner Füße abgewaschen worden sind, wird
die Göttin des Glücks immer an meiner Brust wohnen. Und laß das Zeichen (Deines
Fußabdrucks) unter dem Namen Shri Vatsa bekannt sein.'[25]
Die grundlegende Bedeutung dieser
Erzählung für die Theologie Vishnus ist klar: Der Dharma, die Ordnung der Welt,
erhält von Vishnu eine solche Autorität, daß er, der Gesetzgeber selbst, seinem
Gesetz höchste Achtung entgegenbringt. Diese Achtung aber hat extreme moralische
Folgen: Statt selbstbezogenen Leidenschaften zu frönen, unterwirft er sich
seinem eigenen Dharma. Es ist aber Vorschrift des Dharma, einen Brahmanen mit
allen Ehren zu empfangen und zu versorgen. Da Vishnu dies zunächst versäumt, hat
er sich schuldig gemacht und Sünde auf sich geladen. Im Respekt vor dem Dharma
bekennt er vor dem Brahmanen seine Schuld und geht dann sofort zur Erfüllung der
Gastgeberpflichten über. Daß er es wagen konnte, ob dieser Verunreinigung dem
Brahmanen seinen Dienst zu erweisen, erklärt Vishnu selbst: Seine Sünde war
bereits durch die Berührung mit dem noch staubigen Fuß des Brahmanen ausgelöscht
worden. Vishnu ehrt also den Brahmanen, indem er dessen Erstrangigkeit und
Heiligkeit anerkennt und sich dessen Eigenschaften entsprechend verhält: Er, der
Gott, dient dem Gast, denn nach dem Dharma ist der Gast Gott. Daß Vishnu Shri
Lakshmi, das Glück, das nunmehr auf seiner Brust ruht, nicht durch dieses
gastfreie Verhalten erworben hat, dieses kein meritorisches Werk ist, stellt er
unmißverständlich klar: sein Glück ist allein Wirkung der Berührung durch den
Fuß des Brahmanen.
1.4
Inter-theologische Schlußfolgerungen
Vishnu ehrt in Wahrheit den Dharma,
der ein solches gastfreies Tun vorschreibt. Dieses Handeln ist jedoch kein
karmisch-meritorisches Werk, getan, um Himmelsfreuden oder Schuldvergebung zu
erwerben. Es ist freie Pflichttat, getan aus Achtung vor dem Gesetz.
Dadurch aber, daß er dem Dharma, den
er den Menschen gegeben hat, selbst in allen Konsequenzen folgt, verleiht er ihm
die größte Vertrauenswürdigkeit. Der selbstwertige Dharma muß, wenn schon Gott
sich ihm frei unterwirft, erst recht von den Menschen befolgt werden.
Weil der Dharma aber kein Mittel zu
einem außerhalb seiner liegenden Zweck ist, daß irdische Gesetzeshandeln also
weder letzte Erhöhung noch letzte Verwerfung nach sich zieht, ist auch die
irdische Welt, von Vishnu selbst den Menschen als süße Heimat erschritten, kein
Ort bloßer des meritorischen Karma, oder gar des Verderbens, von dem man in den
Himmel entfliehen möchte. Sie ist vielmehr der Ort des sinnstiftenden
Dharma-Lebens, das endgültige dharmische Paradies.
Vishnus Dharma erweist sich, weil er
Gott und Mensch umfaßt, zugleich als Fundament für eine vertrauenswürdige und
damit verläßliche Gemeinschaft Gottes mit seinen Geschöpfen. Ungleich den
Asuras, den Dämonen, die nur ihre selbstbezogenen Leidenschaften befriedigen und
dazu die Lebewesen ohne Recht und Gesetz unterdrücken und ausbeuten, zeigt
Vishnu mit dem allgültigen Dharma seine mitmenschliche Solidarität.
Indem Vishnu ein wahrhaft
universales Gesetz verkündet, das das Glück aller Wesen, Gottes sowohl als auch
der Menschen, ist, und vor dem alle Stände Himmels und der Erde gleich sind,
stiftet er eine wirkliche und solidarische Gemeinschaft aller Kasten. Weil allen
Wesen dasselbe Gesetz in gleicher Weise als tragender und verbindender Grund
gegeben ist, können sowohl die Menschen untereinander als auch Gott mit ihnen
Solidarität erleben.
Daß Vishnu nicht nur die Menschen
dem Dharma anheimstellte, sondern ebenso sich selbst, erschütterte die Rishis
zutiefst; aber Vishnus Gesetzestreue überzeugte sie vollkommen davon, daß er der
Allerhöchste ist. Sie entschieden sich daher auch, sich der Religion Vishnus,
die diesen Dharma, dieses Gott und Mensch verbindende Gesetz bewahrte, zu
verschreiben. In ihren Augen waren weder die Shiva- noch die altbrahmanische
Religion in der Lage, dem Dharma solche Kraft zu entlocken, wie es Vishnu tat.
Die Erfahrung dieser kraftvollen
Religion, dieses neuen heiligen Wissens, hat die Rishis zu einem revolutionären
Schritt veranlaßt. Im krassen Widerspruch zu ihrer eignen bisherigen Religion
beschlossen sie, dieses neue heilige Wissen nicht sich selbst vorzubehalten,
sondern allem Volke - gleich welcher Kaste und Reinheitsstufe - zu verkünden.
Sie setzten damit die traditionelle Übung der Brahmanen außer Kraft, das heilige
Wissen, hier um den Dharma, von den Ohren der niederen Kasten fern zu halten.
Sie beschlossen, den bislang religiös-moralisch Ungebildeten die "Zweifel" zu
zerstreuen, indem sie ihnen von der Würde des Gesetzes, dem Gott sich selbst
unterworfen hatte, erzählten.
Die Folge der Achtung Gottes vor
seinem Dharma bestand also nicht nur darin, daß der neue Veda Vishnus auch den
Unreinen zugänglich gemacht wurde, sondern auch, daß sich ihnen die Rishis als
Gurus zur Verfügung stellten.
Mit dieser wahrhaft revolutionären
Abkehr von den bisherigen elitären Religionen, der brahmanischen
Priesterreligion des Brahma und der exzentrischen Yoga-Religion der Mahadevas
entstand die erste, universalistische, weil standesübergreifende Massenreligion
Indiens. Sie trat gegen die allmächtige Karmareligion an, indem sie den Dharma
nicht mehr karmisch-meritorisch pervertierte, sondern als endgültige Wahrheit
selbst konstituierte. Die Rishis erkannten, daß das Tun des Dharma selbst
göttlicher Natur ist, daß es keinen Zweck gibt, für den er ein bloßes Mittel
sein könnte. Sie entschieden sich somit für das freie Gesetz, die freie Liebe,
und damit wider die geknechtete Liebe, die Werkgerechtigkeit.[26]
(Forts. folgt)
[1]
The
Hymns of the Rgveda. Tr. by Ralph T.H. Griffith. Edited by J.L. Shastri.
Delhi
1973 [=RV], I.22.16-18: "The Gods be gracious unto us even from the place
whence Vishnu strode / Through the seven regions of the earth! / Through all
this world strode Vishnu; thrice his foot he planted, and the whole / Was
gathered in his footstep's dust. / Visnu the Guardian, he whom none
deceiveth, made three steps; thence-forth / Establishing his high decrees."
[2]
RV
I.154.4b: "Who (sc. Vishnu) verily alone upholds the threefold, the earth,
the heaven, and all living beings."
[3]
RV I.154.2: "within whose (sc. Vishnu's) three
wide-extended paces all living creatures have their habitation."
[4]
RV VII.100.4: "Over this earth with mighty
steps strode Vishnu, ready to give it for a home to Manu. / In him the
humble people trust for safety; he, nobly born, hath made them spacious
dwellings."
[5]
RV I.154.4a: "whose three places that are
filled with sweetness."
[6]
Später wird dieser heilskosmische sog.
Trivikrama- oder Dreischritt-Mythos mit dem heilsgeschichtlichen Mythos vom
Avatar Vamana, dem Zwerg, der durch eine solche Tat, den Dämon besiegte,
verbunden.
[7]
The Vishnu Purana. Tr. by H. H. Wilson,
Calcutta 1972 [= ViP] I/1 p. 3:"equal in sanctity to the Vedas."
[8]
ViP I/2 p. 7: "Glory to the supreme Vishnu, the
cause of the creation, existence, and end of this world; who is the root of
the world, and who consists of the world."
[9]
ViP I/2 p. 7: "who is in all created things."
[10]
ViP I/2 p. 6: "He is the creator, the preserver
and destroyer of the world."
[11]
ViP I/2 p. 7: "And who is known through false
appearances by the nature of visible objects."
[12]
ViP I/6 p. 39: "These were in succession,
beings of the several castes, Brahmans, Kshatriyas, Vaisyas, and Sudra,
produced from the mouth, the breast, the tighs, and the feet of Brahma."
[13]
ViP I/6 p. 39: "These he created for the
performance of sacrifices, the four castes being fit instruments of their
celebration."
[14]
ViP I/6 p. 39: "By sacrifices ... the gods are
nourished; and by the rain which they bestow, mankind are supported."
[15]
ViP I/6 p. 39: "In their sanctified minds Hari
dwelt; and they were filled with perfect wisdom, by which they contemplated
the glory of Vishnus."
[16]
ViP I/6 p. 39: "After a while (after the Treta
age had continued for some period), that portion of Hari which has been
described as one with Kala (time) infused into things sin, ..., the
impediment of soul's liberation, the seed of iniquity, sprung from darkness
and desire."
[18]
ViP I/6
p. 41: "Those, however, in whose hearts the dross of sin derived from Time (Kala)
was still more developed, assented not to sacrifices, but reviled both them
and all that resulted from them, the gods, and the followers of the Vedas.
Those abusers of the Vedas, of evil disposition and conduct, and seceders
from the path of enjoined duties, were plunged in wickedness".
[21]
ViP II/6, p. 171-172
[22]
ViP II/6 p. 172-173: "the beings that are
either in heaven or in hell are destined to proceed, until final
emancipation be obtained."
[23]
ViP I/2 S. 6: "the liberator of his
worshippers."
[24]
Den Rishis wurden die Veden geoffenbart; sie
gelten daher den Hindus als die höchsten Autoritäten.
[25]
The Bhagavata Purana.
Tr. & Annotated by
GaneshVasudeo Tagare, IV, Delhi 1978, [=BhP], X. 89.1-15.20:
"On
one occasion, sages were engaged in performing a sacrificial session (of a
long duration). 0 king, in that session a question was raised for discussion
as to who of the trinity of the ruling gods (i.e. Brahma, Vishnu, and Shiva)
was the greatest. In order to satisfy their curiosity, they deputed the sage
Bhrigu, the son of god Brahma, to ascertain the truth. And he went to the
assembly of god Brahma. In order to test the worth of that god, Bhrigu, did
not pay him homage or chant any hymn in his praise. The worshipful god
Brahma (took it as an affront and) was enraged with him, and was as if aglow
with his burning wrath. Considering that the insulting person was his own
son, the self-born god Brahma quenched the fiery wrath provoked in his mind,
by restraining himself, just as fire is extinguished by water (which is its
own product.) From the assembly of god Brahma, he repaired to mount Kailasa
(the abode of god Shiva). God Mahadeva was delighted (at his brother's
surprise visit) and arising from his seat, he proceeded to embrace him. But
Bhrigu showed no desire for it (avoiding him) with the remark, 'you tread
evil path, (flouting the authority of the Vedas' you have adopted the
heretic way of life and apply ashes of dead bodies from burning grounds).
The tradition goes that the god flew in rage and with fiery eyes, he
snatched up his trident and rushed forth to strike him. His consort Parvati,
however, fell at his feet and pacified him with sweet words. Thereupon
Bhrigu proceeded to Vaikuntha where Lord Vishnu abides. God Vishnu was then
lying on the lap of the goddess Shri (Lakshmi). Bhrigu kicked Him with his
foot on his chest. The glorious Lord Vishnu, the resort of all saints, got
up (in reverence) along with the goddess Lakshmi. He alighted from the
bed-stead and bowing down reverentially to the sage addressed him, 'Welcome
O Brahmana sage; please have some comfortable rest on the seat for a while.
O mighty sage, it beho(o)ves you to forgive us, as we were not aware of your
arrival. O great sage! Your feet are so very soft and delicate, my dear!'
With these words he began to massage soothingly the feet of the Brahmana
with his own hands. 'Be pleased to purify me along with my realm and the
protectors of the world that are within rne, with the water washing the feet
of your worship-water which sanctifies even the holy waters of sacred
places. Worshipful sire! From to-day I have been the sole abode of goddess
Lakshmi. With my sins completely washed off by the touch of your feet (which
symbolise knowledge) the goddess of prosperity (Lakshmi in the form of Shri
Vatsa mark) shall ever reside on my bosom.' Shri Shuka said: When Lord
Vishnu addressed him thus, Bhrigu felt deeply satisfied and happy with his
melodious words in a deep low tone. He remained silent as his voice was
choked with over-whelming feeling of devotion, his eyes, over-flowing with
tears. Returning to the place of that sacrificial session, Bhrigu fully
recounted to those sages who were well-versed in the Vedas, what he
experienced (in the realm of the three gods). Listening to that report the
sages were wonder-struck and had their doubt (about the supremacy of the
three gods) dispelled. They came to believe god Vishnu to be the
Supreme-most god, who bestows tranquility and fearless State (Moksha). ...
Shri Shuka said: In this way, the Brahmanas who were performing the
sacrifice, came to this conclusion for dispelling the doubts of the people.
By worshipping the lotus-feet of the Supreme Person, they attained to his
blissful state."
[26]
Vgl. Edmund Weber: Freie Liebe
und bhakti. Zur Konvergenz der Gottesliebe bei Martin Luther und Shri
Krishna Caitanya.
THEION - Jahrbuch für Religionskultur, Band 2,
1993, S. 155 ff.
|